ERSHETU – Xibalba

Stil: Archaische Maya-Kultur trifft auf unterweltlichen Black Metal – und das ist erst der Anfang der Geschichte…

Man mag sie kritisieren oder sogar verfluchen, ein positiver Aspekt der Globalisierung ist die Tatsache, dass durch die zunehmende Vernetzung traditionelle Kulturen und vor allem unterdrückte Minderheiten eine Stimme erhalten, die von der selbstzentrierten westlichen Welt bisher kaum wahrgenommen wurden. Dass ihre Geschichte(n) nun gehört werden und Interesse erfahren, lässt sie der Welt mit einem ganz neuen Selbstbewusstsein entgegentreten, in der Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, aber vor allem auch in der Kunst, die sich wieder viel mehr auf die lokal überlieferten Traditionen besinnt.

Dies bildet sich natürlich auch in der Metalszene ab, die in ihren Anfängen komplett auf angelsächsische Vorbilder fixiert war, auch wenn sich überall schnell lokale Stile ausbildeten. Sicherlich gab es schon immer den Tapetrader-Austausch zwischen Nerds, die mit Metallern in aller Welt Kontakt hielten, doch hat das Internet gerade auch hier die Möglichkeit geschaffen, miteinander in Kontakt kommen, wo es zuvor kaum Anknüpfungspunkte gab. Gerade im Black Metal spielen die Herkunft und die Folklore der Heimat schon immer eine wichtige Rolle, und so ist es nur folgerichtig, wenn heutzutage Bands von überall auf diesem Globus ihre musikalischen Traditionen und eigenen Instrumente mit Blastbeats und Tremoloriffing verbinden, und die Geschichte dadurch fortschreiben.

Den umgekehrten Weg gehen jedoch ERSHETU, ein Projekt benannt nach der mesopotamischen Unterwelt, was gleich darauf hinweist, worum es hier inhaltlich gehen soll, nämlich die verschiedenen Konzepte des Todes in unterschiedlichen Kulturen und Religionen. Diese Idee entstand folgerichtig 2021, in der Zeit der grossen Seuche, während der der Tod auch in der ihn sonst möglichst negierenden westlichen Zivilisation allgegenwärtig war, und das Stillhalten der Welt Raum für bisher unerhörte Ideen bot. Jedes Album wird sich einer Überlieferung aus einer anderen Kultur widmen, und der vorliegende Erstling hat, wie sein Titel schon andeutet, die Unterwelt der Mayas zum Thema. ‚Xibalba’ heisst übersetzt „Ort der Angst“ und umfasst den Teil des Kosmos, in dem die Toten durch diverse Prüfungen und Leiden ihre Wiedergeburt erlangen müssen. Diese Umgebung wird nach dem Vorbild des ‚Popol Vuh’, des heiligen Buches der Quiché-Maya in Guatemala, das mythologische und historische Aspekte dieses Volkes behandelt, mithilfe traditioneller mittelamerikanischer Rhythmen und Instrumente, ritueller Gesänge und mit mächtigen Soundtrack-artigen Arrangements und schwarzmetallischen Elementen zum (Nach-) Leben erweckt, und zwar auf absolut hypnotische und fesselnde Weise, was beim Betrachten des Lineups auch kaum verwundert.

Hinter ERSHETU stehen zum einen Void von Debemur Morti Productions/DMP, der für das Konzept und die Lyrics verantwortlich ist, und zum anderen Sacr als Komponist und Arrangeur. Letzterer ist Filmkomponist und bringt damit Erfahrung im Arrangieren orchestraler Parts und das Einbeziehen aller Art von Instrumenten und gesampelten Hintergrundgeräuschen genauso mit wie den Blick auf die stark emotionale Wirkung von Musik, er baut die grossen, atmosphärischen  Breitwand-Spannungsbögen vor, die von den Musikern getragen werden. Und dann wäre da an Bass und Gitarren kein Geringerer als Vindsval (BLUT AUS NORD, EITRIN), der sich hier jedoch ganz dem angestrebten episch-cineastischen Sound unterwirft, nicht ohne manch aggressiv-dissonante Trademark-Tremolofolge (‚The Place Of Fright’) beizutragen; zudem hat er das Ganze gemixt.
Seine Stimme wiederum erkennt man sofort: Lazare aka Lars Are Nedland (BORKNAGAR, SOLEFALD), der es wie kein Anderer schafft, hier vor allem clean, gleichzeitig sanft und leidenschaftlich zu singen und vor allem stets einen ursprünglichen, folklorehaften Ton zu verkörpern. Er erzählt die dramatischen Geschichten in vielerlei abgestimmten Nuancen und bringt die Zuhörenden sofort in seinen Bann. Doch am wichtigsten ist wohl Intza Roca, der Schlagzeug und Percussions (besonders beeindruckend; der Beginn von ‚Hollow Earth’!), aber vor allem die traditionellen Flöten und andere Holzblasinstrumente übernimmt, die mit ihrem einmaligen Klang endgültig klarmachen, wo auf diesem Planeten wir uns gerade befinden – wo bitte findet man einen Extremmetaldrummer, der solche Qualitäten in sich vereint?

Wie zu vermuten, haftet ‚Xibalba’ viel von einem Konzeptalbum an, das sich von einer Eingangssequenz zur dramatischen Klimax vorarbeitet und ab da den erlösenden oder ernüchternden Schluss vorbereitet. Höhepunkt und im Wortsinne „Best of both worlds“ ist sicherlich das zentrale ‚Cult Of The Snake God’, doch genauso emotional packend sind die folgenden beiden Stücke, in denen die Stimmung schliesslich umschlägt. ‚Tunkuluchú’, der Todesvogel, der riechen kann und daher an seinem Haus singt, wenn ein Mensch bald stirbt, beendet mit einem dunkel-okkulten Ritual unseren Ausflug in die Maya-Unterwelt.
Dieses Album fordert nach dem ersten Hören sofortige Wiederholung, denn hier sind so dermassen viele Details und Nebenschauplätze verarbeitet, dass auch nach vielen Durchgängen immer wieder Neues zu entdecken bleibt. Trotzdem ist das Album das Gegenteil einer anstrengenden oder gar überfordernden Angelegenheit, es hat vielmehr eine stark meditative Qualität durch seine rituelle Rhythmik, aber vor allem weil es sofort in seinen Bann zieht.

Die mittlerweile parallel verfügbare instrumentale Version von ‚Xibalba’ macht dreierlei deutlich: wie gut sich gerade Lazares mal sanfter, mal exstatischer Gesang sich erzählend und die Geschichte weiterspinnend in das Gesamtbild einfügt und wie wichtig er vor allem für die vielfarbigen Nuancen an Stimmung ist, aber vor allem wie stark, detailreich, aufeinander aufbauend und immer schlüssig die Songs komponiert sind, und wie sie ihre symphonische, cineastische Qualität entwickeln. Noch einmal mehr als in der Komplettversion stechen jedoch die Holzblasinstrumente heraus und verdeutlichen, wie wichtig und tragend ihr Einsatz ist.


Ein Labelboss, der sich zum 20. Firmenjubiläum eine eigene, konzeptuelle Band mit Musikern aus dem eigenen Hause spendiert, und damit auch noch Fans glücklich macht – das ist doch ein wirklich schönes Geschenk! Es bleibt spannend, welche Kultur als nächstes in den Fokus der Band rückt, und wie lange diese Reise weitergeht. Die Welt ist auf jeden Fall gross genug und bietet viele Geschichten, um ERSHETU noch lange zu beschäftigen…

Video by Dehn Sora

Bandinfo:

ERSHETU sind Void (Konzept & Texte) und Sacr (Musik & Arrangement), hinzu kommen bei ‚Xibalba‘ Lazare/Lars Are Nedland als Sänger, Vindsval an Gitarren und Bass sowie Intza Roca an den Drums, Percussions & Holzblasinstrumenten.

https://ershetu.bandcamp.com/album/xibalba
https://www.facebook.com/ershetu
https://www.instagram.com/ershetu_official

Schreibe einen Kommentar

Deine Email-Adresse wird nicht veröffentlicht.