DØDHEIMSGARD / DHG – Black Medium Current

  • Veröffentlichung: 14.04.2023

  • Vertrieb: Peaceville Records

  • Versionen: Digital, CD, Vinyl

Stil: Avant-Garde-Psychedelic Black Metal von den Könnern, die sich ständig neu erfinden

Als Fan freut man sich auf jede neue Scheibe seiner liebsten Bands, doch es gibt Gruppen, da spitzen wirklich alle im Business, die Musiker, Promoter, Booker, Szenekenner und KritikerInnen die Ohren, weil man von ihnen einfach mehr erwartet – mehr Neues, Ungewöhnliches, Inspirierendes, Experimentelles, ja auch Kontroverses. Die Norweger DØDHEIMSGARD gehörten schon immer zu diesen Bands, und auch ‚Black Medium Current’, DHGs sechstes Album macht da keine Ausnahme. Schon die erste veröffentlichte Single ‚Abyss Perihelion Transit’, siehe das Video unten, machte extreme Lust auf mehr, und nun steht die Veröffentlichung kurz bevor und ich kann sagen – das Warten hat sich absolut gelohnt, ob es im psychedelisch-proggigen Black Metal da 2023 noch eine Steigerung gibt ist unwahrscheinlich. Vielleicht lehne ich mich zu weit aus dem Fenster, aber für mich liegt sie als frühes Jahreshighlight und Messlatte schon jetzt auf Augenhöhe mit ORANSSI PAZUZUs 2020er Meisterwerk ‚Mestarin Kynsi’, das damals ebenfalls Mitte April erschien, und das will schon etwas heissen…

…und ich habe nun die undankbare Aufgabe, meine Entzückung zu begründen. Dabei ist das eigentlich ganz einfach, denn wirklich alles, was auf ‚Black Medium Current’ passiert, findet auf einem schwindelerregend hohen Niveau statt – sei es stilistisch, musikalisch, konzeptuell, innovativ, kompositorisch oder tontechnisch, und doch ist die beeindruckendste Erfahrung, wie sehr dieses hochkomplexe, vielschichtige, unmöglich unter dreiunddreissig Durchläufen auch nur annähernd zu erfassende Album den Hörer sofort emotional erreicht und packt, in sein schräges, verwirrendes und manchmal auch immer noch verstörendes Universum zieht, das doch nur unser aller Inneres, unser vielbesungenes und doch kaum erfassbares zerrissenes Bewusstsein abbildet – und für Psyche-delische Reisen sind die Inner Space-Pioniere DØDHEIMSGARD nun mal einfach die besten Guides.

„Beneath your shell, I’m under your skin…“

Seit dem 1999er ‚666 International’ beglücken uns die Osloer im Abstand von acht Jahren mit neuen Explorationen der unbegreiflichen, dunklen und irrationalen, sagen wir’s einfach wie es ist: ver-rückten bis wahn-sinnigen Seiten des menschlichen Geistes, und übersetzen diese Expeditionen stets mit den verfeinerten Mitteln des traditionellen 90er Black Metals ihrer eigenen Herkunft, ihrem geliebten Industrial genauso wie mit Elementen aus Klassik, Folk, Jazz, Krautrock und Elektronik bis hin zu Techno und Trip-Hop, aber immer mehr auch Progmetal bis Artrock. Das schlichte graphische Cover spielt mit seinem aufgespaltenen, umgedrehten Farbspektrum mit PINK FLOYD-Ästhetik und meldet damit den nochmals verstärkten Progeinfluss schon einmal an, vielleicht aber auch seinen Anspruch, ein Opus Magnus wie ‚The Dark Side Of The Moon’ zu sein.

Die einzige konstante Personalie bei DHG ist Vicotnik aka Yusaf Parvez, die diesmal beteiligten Lars Emil Måløy, Tommy “Guns” Thunberg und Øyvind Myrvoll sind jedoch schon seit 2015 dabei, wobei Letzterer ebenfalls bei DOLD VORDE ENS NAVEN beteiligt ist, aus deren letzter Entwicklung ‚Black Medium Current’ so einiges an melancholischer Atmosphäre und kompositorischer Struktur sowie Reife gewinnen konnte, sprich: aus der Ruhe des Midtempos zu schöpfen gelernt hat.
DHG sind zwar die Meister des Widerspruchs in sich selbst, haben es jedoch diesmal geschafft, das kreative Chaos in geordnete, jedoch nicht weniger komplexe Bahnen als zuvor zu lenken. Einen Teil davon machen sicherlich die Vocals aus, bei denen selbst eingefleischten Fans des Ex-Sängers Aldrahns überdrehte ADHS-Expressivität kaum fehlen wird, der noch dem 2015er Vorgänger ‚A Umbra Omega’ seine exklamatorische Stimme und im wilden, düsteren Wahnsinn gefangene Stimmung geliehen hat; wobei Vicotniks Darbietungen auch nicht weniger exzentrisch sind, wie man seitdem schon gut live (wie beispielsweise hier auf der Void Dancers Tour MMXIX) bewundern konnte.

Vielleicht macht die schräge Subtilität und eher tragische Exzentrik seines Gesangs die Atmosphäre der Songs sogar noch düsterer, ergreifender und verletzlicher? ‚Black Medium Current’ ist sicher das intimste Werk und damit auch deutlich emotional zugänglicher als seine grossartigen Vorgänger.

Musikalisch haben DHG ihren erfolgreichen Weg beibehalten, den Zweite Welle-Sound ins 21. Jahrhundert zu beamen, indem sie seine grundlegenden Elemente wie flirrende Gitarren, Blastbeats, atmosphärische Keyboards und folkloristische Melodieführung beibehalten, und gleichzeitig mit völlig genrefremden Komponenten zu einem organischen und trotz seiner unerwarteten Wendungen stets nachvollziehbaren Ganzen vereinigen, der Einsteiger ‚Et Smelter’ ist ein Beispiel hierfür: über die Hälfte seiner zehn Minuten Laufzeit eine Atmo-Folk-BM-Blaupause, wandelt er sich in den letzten drei Minuten allmählich in einen Artrock-Synthie-Jam um, nochmals zwei Jahrzehnte vor den 90ern verortet, aber wunderbar passend.
Einer meiner Favoriten, das zuerst ebenso ätherische wie bodenständig geblastete ‚Tankespinnerens Smerte’ („Der Schmerz des Denkers“, hach ja…), vereinigt tiefe Melancholie mit einer fast überweltlichen progressiven Schön- und Zartheit, wie man sie von DHG so bisher noch nicht kannte, die jedoch die Virtuosität der beteiligten Protagonisten in aller Pracht ausstellt, die exakt abgewägte Schlagzeug-, elastische Bass- und gefühlvolle Gitarrenarbeit ist einfach phantastisch, und leitet lückenlos weiter zum programmatisch-komplexen ‚Interstellar Nexus’, das uns vom Prog-Parkett geradewegs auf den groovigen Dancefloor führt, um mitIt Does Not Follow’ endgültig psychedelisch zu werden, ohne dabei die dunklen, bedrohlichen Waldpfade des Black Metal zu verlassen, ganz im Gegenteil…

A slave to psychology…“

Diese durchgängige Fokussierung auf den Black Metal ist viel mehr als eine nostalgische Anwandlung, sondern beruft sich auf ihn als Konzept und ursprünglichen Wert, der bei DØDHEIMSGARD stets die Basis von allem bildete, und vielleicht ist genau das eine der möglichen Schablonen für die zukünftige Weiterentwicklung zeitgenössischen nordischen Black Metals? Von den eher traditionellen Stücken haben wir uns nun in einen progressiveren mittleren Teil vorgehört, der jedoch mit ‚Halow’ in die abschliessenden, visionären Stücke ‚Det Tomme Kalde Morke’, die erste Single ‚Abyss Perihelion Transit’ sowie das abschliessende ‚Requiem Aeternum’ überleitet. Hier herrschen nun völlige stilistische Freiheit und damit die endgültige Umsetzung des thematischen Konzepts, besser: des philosophischen Kampfes zwischen Authentizität und freiem Willen vs. Determinismus und moralischer Verantwortung. Vicotnik interessiert dabei vor allem die Frage, ob Angst und freier Wille Kontrahenten sind, und wie wir es schaffen können, innere Freiheit über Kunst und Kreativität aus der schmerzhaften Konfrontation mit existenzieller Verzweiflung zu gewinnen – eine neue Stufe der Erforschung des menschlichen Irr- und Wahnsinn mit dem sich DHG seit jeher beschäftigen. Wie schon ‚Blue Moon Duel’ des Vorgängers schliesst ‚Requiem Aeternum’ mit Piano und Streichern auf sehr sanfte und nachdenkliche, doch hoffnungsvolle Weise diese Gedankenspiele ab.

Mit ‚Black Medium Current’ erfreuen und beweisen DØDHEIMSGARD auf meisterliche Art und Weise, wieso Black Metal weiterhin die kreativste Stilrichtung im Schwermetall ist, und sie selbst eine der Bands, die in der Lage sind, das Genre für neue, auch gerne philosophische Ideen zu öffnen und damit in die Zukunft zu bringen. Ich bin sehr gespannt, wer in den kommenden Monaten mutig genug ist, die Herausforderung, sich mit ihnen zu messen, anzunehmen.

Bandinfo:

DØDHEIMSGARD sind Vicotnik (Vocals, Guitar), Lars Emil Måløy (Bass, Piano, Cello und Theremin), Tommy “Guns” Thunberg (Lead Guitar) und Myrvoll (Drums).

https://www.instagram.com/dodheimsgard_official/
https://www.facebook.com/DODHEIMSGARD/
https://peaceville.com/bands/dodheimsgard/

Diskographie: (nur LPs und EPs)

Kronet til konge (LP, 1995)
Monumental Possession (LP, 1996)
Satanic Art (EP, 1998)
666 International (LP, 1999)
Supervillain (Outcast LP, 2007)
A Umbra Omega (LP, 2015)
Black Medium Current (LP, 2023)

“To dream (abstract reality) is purpose, matter (physical reality) is the fabric in which to research and fulfil the purpose.”

Vicotnik

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