Stil: Japanischer Avant-Garde-Black Metal der alten & innovativen Schule feiert sein 30jähriges Bandjubiläum live
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Veröffentlichung: 16.06.2023
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Vertrieb: Peaceville Records
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Versionen: Digital, CD, DVD, Vinyl
Wie viele andere Bands haben auch die japanischen Black Metal-Avantgardisten SIGH während der Corona-Zeit die Möglichkeit schätzen gelernt, Konzerte ohne Publikum zu spielen und sie per youtube zu veröffentlichen, und so gingen sie auch im Jahr vor ihrem 30jährigen Bandjubiläum auf die traditionell gestaltete Bühne, um ihrer eigenen Geschichte zu bedenken sowie die neuen Songs des Magnum Opus ‚Shiki’ (siehe Review hier) endlich live zu spielen. Es war anfangs gar nicht geplant, dabei ihr drittes Livealbum aufzunehmen, doch da die Aufnahme so gut geriet, wurde eben ‚Live: The Eastern Forces Of Evil’ daraus, ein Querschnitt durch das Beste des aktuellen Albums, aber vor allem die verdorbenen Früchte aus dreissig Jahren absoluter Pionierleistung im ostasiatischen Black Metal.
Die titelgebende Zeile und wohl auch Selbstverständnis der Band stammt denn auch aus dem ersten Song nach dem Intro, ‚A Victory of Dakini’ vom SIGH-LP-Debüt ‚Scorn Defeat’ aus dem Jahre 1993, die zeigt, wer damals Bandleader und heutzutage einzigem Gründungsmitglied Mirai Kawashima’s grosse Vorbilder waren, das Ding ist auch in der heutigen Version noch VENOM-Worshipping galore, und erschien zudem damals auf Euronymous Label „Deathlike Silence Productions“. Gleichzeitig ist der aktuelle Plattentitel ein Zitat des ersten, später offiziell gewordenen Bootleg-Albums ‚The Eastern Force of Evil: 92′-96‚’, das jedoch mehr als zur Hälfte aus VENOM und DEATH-Covern plus einer Handvoll eigener Songs bestand, aufgenommen über den Zeitraum von, wie der Name schon sagt, vier Jahren, und dieser Tradition entsprechend wird auch heute am Ende wieder mit ‘Evil Dead’ dem anderen ihrer grössten Einflüsse gehuldigt, nämlich DEATH. Und da auch das zweite Livealbum ein ‚Scorn Defeat 20th Anniversary Gig’ inclusive diverser Cover bereits genannter Bands ist, haben wir es wenn man es ganz genau nehmen will, bei ‚Live: The Eastern Forces Of Evil’ mit der ersten echten SIGH-Livescheibe aus fast ausschliesslich eigenem Material zu tun, und das nach vollen dreissig Jahren… da haben andere Bands schon ein paar Zentimeter Liverscheiben im Plattenregal stehen, es zeigt jedoch die Bescheidenheit und Attitüde der Band, die ihre Kunst, aber nicht sich selbst wichtig nimmt.
Zwischen den Huldigungen der alten Helden gibt es ausgewählte Hits aus allen Dekaden seit Bandgründung (‚Ghastly Funeral Theatre’ 1997, ‚Hangman’s Hymn – Musikalische Exequien’ 2007, ‚Scenes from Hell’ 2010, ‚In Somniphobia’ 2012) zu hören, plus eben dem Besten von ‚Shiki’. Solch ein grosser Überblick hat bisher tatsächlich gefehlt, und allein wegen der Auswahl aus verschiedenen Bandphasen lohnt sich die Anschaffung, denn man kann so ganz einfach verfolgen wie die Band auf verschlungenen Wegen schliesslich zu dem wurde, was sie heute ist. ‚Live: The Eastern Forces Of Evil’ ist ein Überblick des Schaffens einer Band, die über drei Jahrzehnte, diverse Besetzungswechsel und Neuausrichtungen sehr vieles ausprobiert, alte wie neue Einflüsse aus der eigenen wie von fremden Kulturen, aus U- wie E-Musik aufgenommen und sich ständig weiterentwickelt hat.
Dass Mirai nicht jünger geworden ist (was er in den letzten Jahren ja ständig selbst klagend zum Thema macht…), merkt man den aktuellen Versionen älterer Songs nicht nur dadurch an, dass seine Stimme, vielmehr seine Art zu singen sich über die Zeit gewandelt hat, sondern auch, dass sie heutzutage durch die Lesebrille des erfahrenen Musikers interpretiert werden: weniger roh und ungestüm als vielmehr progressiv-psychedelisch und theatralisch-getragen, aber eben auch traditionell metallisch, gerade was die Gitarrenarbeit des Heavy Metal-Traditionalisten Nozomu Wakai angeht (die klassisch-symphonischen ‚Purgatorium/The Transfiguration Fear’), und dann doch wieder durch Synthesizer und Saxophon aus komplett anderen Sphären gebrochen, wie es seinerzeit nur CELTIC FROST schafften (man höre nur das zwischen slavischer Klassik, Orff und Industrial groovende ‚The Soul Grave’!). Hier zeigt sich wieder einmal die Genialität dieser Aussenseiterband, die es nicht nur geschafft hat, sich ein neues, extremes Genre auf der Basis der Musik und auch Instrumente der eigenen Kultur anzueignen, sondern darauf einen Stil aufzubauen, den man ob seiner vielfältigen Einflüsse schon gut und gerne „Universalmusik“ nennen könnte.
Spannend ist dabei der Kontrast zu den nochmal komplexeren neuen ‚Shiki’-Songs, die mit den Klassikern abwechseln, ihr Thema ist ja Altern und Verfall, doch eben nicht mehr nur aus der jugendlichen, horrorbegeisterten Schwarzmetaller-Sicht, sondern mit Lebenserfahrung des Künstlers und Familienvaters gesetzteren Alters, dessen Melancholie in den psychedelischen und Art-Rock Einflüssen hier besonders deutlich wird. Viel Spass macht dagegen Dr. Mikannibals grausliges Growlen und ihr klarer und geshouteter Gesang, der ein perfektes Gegengewicht zum heiseren Bellen und Croonen ihres Gatten bildet – SIGH können bei aller Ernsthaftigkeit auch gut über sich selbst lachen.
Eine nochmalige Steigerung des Hörgenusses bietet dabei die DVD, gerade weil wir uns mittlerweile sowieso an Auftritte ohne Publikum gewöhnt haben und den Applaus zwischen den Songs gar nicht mehr vermissen, aber vor allem wegen der bizarr-blutigen und gleichzeitig fremdartig-faszinierenden Bühnenshow der TokioterInnen macht ihre Anschaffung Sinn. Im Gegensatz zu ihren nordeuropäischen Mitstreitern, die sich mangels überlieferter Vorbilder ihre okkulten Rituale selbst ausdenken mussten, konnten SIGH von Anfang an aus der durchaus blutrünstigen japanischen Götter- und Heldengeschichte sowie Samuraikultur schöpfen, und wenn sie wie im Falle von Dr. Mikannibal und Nozomu Wakai zwar gebrochen, jedoch angedeutet traditionell geschminkt und gekleidet sowie mit Schwertern und Masken auftreten, fasziniert das doch mehr als die übliche nordische Corpsepaint-Fell-Feuer-und-Blut-Show. Und wer die Band in ihrem Jubiläumsjahr tatsächlich live in Europa erleben will, hat im Herbst zweimal die Chance dazu: beim Samhain Festival Maastricht sowie zweimal mit verschiedenen Sets, davon eines ‚Scorn Defeat‘ in Gänze, beim Damnation Festival in Manchester.
SIGH machen mit dieser Veröffentlichung alles richtig, indem sie nicht nur daran erinnern, dass sie bereits seit ihrer Gründung zu den wegweisenden Bands des Black Metal gehörten und einen Weg gegangen sind, der sich selbst stets treu, aber genauso neugierig für alles jenseits des Tellerrandes war. Gleichzeitig macht der Compilationcharakter von ‚Live: The Eastern Forces Of Evil’ auch all denjenigen Lust auf mehr, die erst später auf die Band aufmerksam wurden. Es gibt mittlerweile immerhin zwölf Langspieler im Backkatalog zu entdecken, und solange Dr. Mikannibal ihrem Gatten weiter Feuer unter dem Hintern macht, ist die Geschichte der östlichen Mächte des Bösen noch lange nicht zu Ende erzählt…
Bandinfo:
SIGH sind Mirai Kawashima (Bass/Vocals), Dr. Mikannibal (Vocals/Saxophon), Nozomu Wakai (Guitar) und Takeo Shimoda (Drums).
www.facebook.com/SIGH-official-page-227550909275/
www.instagram.com/sighofficialjapan/
Diskographie: (nur LPs)
Scorn Defeat (1993)
Infidel Art (1995)
Hail Horror Hail (1997)
Scenario IV: Dread Dreams (1999)
Imaginary Sonicscape (2001)
Gallows Gallery (2005)
Hangman’s Hymn – Musikalische Exequien (2007)
Scenes from Hell (2010)
In Somniphobia (2012)
Graveward (2015)
Heir to Despair (2018) – link to review
Shiki (2022) – link to review