Diverse SIGH – Reviews

von UltraViolet aka U.Violet, zuerst erschienen bei www.Saitenkult.de:

SIGH – Heir To Despair

Nov 18, 2018

~ 2018 (Candlelight/Spinefarm Records) – Stil: Trüffelsucher-Metal ~


Es gibt Platten, die sind zu groß für einen Menschen allein, und auf diese heir, ähh, hier trifft das mit Sicherheit zu. SIGH gehören zu den Gruppen, die niemals auch nur im entferntesten über Genreschubladen nachgedacht haben, obwohl sie sich schon immer (Sänger-)Schützenhilfe aus allen Ecken der Metalwelt geholt haben. Und stilerweiternd bedienen tun sie sich ebenfalls gewohnheitsgemäß überall, sie haben 1990 als Black-/Thrash-Band à la VENOM begonnen, sich im Dunstkreis von Euronymus dem Zweite-Welle-BM angenähert und dabei frischen symphonischen Wind nach Norwegen gebracht, aber auch dieses Korsett schnell gesprengt, sich Jazz, Klassik, Filmmusik und schliesslich noch Psychedelica einverleibt, spielen jedoch immer unverkenn- wie unverwechselbaren Metal. Eine Band, die schon immer gespalten hat – in lieben oder gar nix mit ihnen anfangen können; exzentrisch, avantgardistisch, larger than life. Keyboards – ok, aber Querflöte und Saxophon im (Black) Metal? Und nun haben sie sich schliesslich auf ihre japanischen Wurzeln besonnen, singen in ihrer Muttersprache und integrieren fernöstliche Folklore – wie bereits angedeutet, much too much für mich allein.

„Na und?“, wird der treue Streetclip-Leser nun einwerfen, „dann macht doch einfach wieder so ein Rudelreview, seid ihr ja mittlerweile berühmt & berüchtigt dafür!“. Ich befürchte nur, in diesem Fall will keiner der Herren mitziehen…also habe ich den Spieß jetzt einfach mal umgedreht.

Ich bin nun seit anderthalb Jahren in diesem Trüffelsucherverein dabei, allerhöchste Zeit also, sich einmal meinen werten Kollegen und ihren persönlichen Vorlieben zu widmen! Und auch wenn Weihnachten noch eine ganze Ecke entfernt ist, bekommt nun jeder seinen ganz persönlichen, abgedrehten „Seufzer“ als Betthupferl zugedacht…viel Spaß und wohl bekomm’s!

(Und falls sich jemand verkannt fühlen sollte, alle Beschwerden bitte wie üblich direkt an den Herrn Chefredakteur adressieren )

Gleich geht’s auch schon los mit ’Aletheia’, gewidmet unserem Tanzbär Markus gps! Offen für fremde Kulturen und filigrane Instrumentalkunst sollte er bei diesem sehr querflöten-, keyboardeffekt- und folklastigen Zucker-stückchen Musik gleich einen selbigen in den Füßen spüren. Die Vocoderstimme und die langen, repetitiven, aber immer wieder ins frei improvisierende ausbrechenden Gitarrenläufe mit Klassikeinschlag laufen dem Proggie rein wie feinster fränkischer Rotwein, da bin ich mir doch ziemlich sicher. Ein feiner Aperitiv, gelle?

Und was könnte es dann anderes sein als ein (ok, so ziemlich…) klassischer Thrasher für Jürgen? Er hatte mich damals angeheuert, also beschwert euch bei ihm, wenn ich euch mal wieder auf die Nerven gehe 😉’Homo Homini Lupus’  ist sein Song! Fast zu normal für die durchgeknallten Japaner, bringt er ganz schön Drive auf die Bretter und zeigt die genial-dynamische Gitarrenarbeit zwischen fettem Riff und klassischem Solo, abgeschmeckt mit einem ordentlichen Schuss Kinosoundtrack. Auch die von Ju hochgeschätzen Landsleute LOUDNESS haben ähnliche Geschwindigkeiten und japanischen Gesang zu Beginn ihrer Karriere gebracht, und ja, die tiefen Vocals werden hier von einem gewissen Herrn Anselmo beigesteuert, mit dem Bandkopf Mirai Kawashima bei ENOCH zusammengearbeitet hat. That’s Metal!

Über unseren letzten Zugang Johannes weiss ich bislang recht wenig, doch seine stets sehr knackigen, auf den Punkt gebrachten Reviews sagen einiges über seinen Musikgeschmack aus. Er bringt eine breite Fachkenntnis in den extremen, fiesen, dreckigen, ja auch grindigen Abgründen mit, die sich hinter Death-, Black-, Doom- und Sludge Metal auftun, gerne darf’s bei ihm auch eine Schippe Hardcore und Punk sein. Die gekotzte Stimme und die dreckigen Gitten von ’Hunters Not Horned’ sollten ihm also gefallen, was er jedoch zu einer Querflöte sagt, die gleich zu Beginn ein SLAYER-Riff begrüßt, weiss ich nicht wirklich, es grüsst jedoch freudig: Mike Patton. Das hier ist Thrash mit anderen, “abgepfiffenen” Mitteln, fast schon symphonisch mit einem grossen Spannungsbogen und viel Atmosphäre am Ende – ich hoffe, es mundet!

Jetzt wird’s so richtig krass. Ozzy bellt einen fernöstlichen Papiermond an? Ein Dämon auf Speed keift gegen folkloristische Chöre? Ein Shamisen-Maestro entlockt immer wieder zwischendrin der Langhalslaute orientalische, aber ordentlich gehärtete Klänge? NWoBHM-Soli werden rhythmisch ausgebremst und angefrickelt getuned, und das alles in Highspeed? ’In Memories Delusional’ ist ganz klar ein Fall für unser wandelndes Musiklexikon und Chefredakteur Michael! Nur er kann solche vielschichtigen Klanggebilde lyrisch auseinanderdröseln und dem einfachen Metalvolk näherbringen. Und in diesen Song haben SIGH wirklich alles gepackt – schwere Riffs plus ausladende klassische Soli, x verschiedene Referenzen in den diversen Liedbausteinen, Dissonanz wie Harmonie, gegenläufige Rhythmik und am Ende wird es regelrecht orchestral – Grande! Chefmaterial eben…

Szenen- und Tempiwechsel, Chillmodus on. Der erste Teil der ’Heresy’-Trilogie, ’Oblivium’, hat zwar mit Doom ausser der runtergedrehten Geschwindigkeit rein gar nichts zu tun, aber Sir Lord D. wird es mir hoffentlich verzeihen – ist hier doch auch eine gehörige Packung stark verhallte Psychedelika mitverbacken und die barocken Flötenklänge erinnern an den Artrock der Sixties/Seventies. Noch stranger wird es in den beiden kurzen Anschlussteilen, extrem verzerrte Film-Versatzstücke wie aus der ’Hail Horror Hail’-Phase, wirklich nur etwas für Spezialisten, doch in dem Gesamtzusammenhang absolut stimmig. Denn diese Platte schafft es, komplett eigenständig einfach ALLES absolut hörbar miteinander zu verbinden, und genau das nenne ich SIGHs grosse Klasse! Da spielen sie mit MASTER’S HAMMER in ihrer ganz eigenen Liga…

Doch Obacht, hier kommt wieder eine ganz andere Stilrichtung: zugleich episch, progressiv, klassisch und – in der Zeit zurückgewandt (seht ihr, wie ich verzweifelt versuche, das böse Rrrrrrr-Wort zu vermeiden…?). Highspeed, Crossover, Groove und sophisticated Riffing, aufgelöst in einem traumtänzerischen Beat und garniert mit einer geradezu Tobolsky’schen Flöte; WUCAN-Kraut meets Power-Metal – wer könnte sich in ’Hands Of The String Puller’ besser wiederfinden als Ludwig? Auch hier wird wieder ausgiebig soliert, der Dialog zwischen Gitarren und Flöte fasziniert, doch man kommt professionell auf den Punkt und nach nicht einmal 3 Sätzen, ähh, fünf Minuten ist schon wieder alles vorbei, und es geht übergangslos in den überlangen Abschlussong.

Und dieser geht an…??? Ja, wen wohl? Einer fehlt noch in der Runde, und es ist natürlich mein Lieblingskollege mit dem schier unendlich weiten musikalischen Horizont und grossen Herz für alle, die Musik mit Begeisterung und Herzblut machen (und geniessen!)… Less muss der Titelsong gehören, denn – keiner ist länger 😉
’Heir To Despair’ bietet auf über zehn Minuten ein Breitwand-CARACH ANGREN-Soundtrack-Gedächtnishörspiel inklusive operettenhaftem Seemannsgarn und Gespensterheulen, massiv Neo-Proggiger Atmosphäre, und ist gleichzeitig das Stück mit dem grössten Schwarze-Seelen-Anteil auf dieser Scheibe. Ein klarer Fall für Scheuklappenverächter und ein mehr als würdiger Abschluss einer der exotischsten und vielschichtigsten Scheiben diesen Jahres! ありがとう!

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Jungs, Ihr habt mein Leben absolut bereichert! Mit Eurem riesigen Hintergrundwissen, Eurer Leidenschaft für diese unsere Musik, Eurer fundierten Kritik und Aufmunterung, den manchmal sehr kontroversen Diskussionen und vor allem den unendlich witzigen Rudelchats! Und natürlich nicht zu vergessen der Rundumbedienung bei diversen Festivals … daher musste es jetzt mal ein als Review verkleideter Liebesbrief an Euch sein – SIGH mögen es mir verzeihen. Denn für sie und ihre vierte Platte im dritten Zyklus fällt schliesslich auch noch was nettes ab: nämlich

9 ganz fette Punkte!

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SIGH – Shiki

Sep 15, 2022

~ 2022 (Peaceville Records) – Stil: SIGH halt…


Wenn ich was Neues von SIGH höre, ertappe ich mich immer wieder beim Gedanken daran, wie gewisse Herren aus der Schweiz, aus Skandinavien und Griechenland wohl 1990 reagierten, als die Japaner ihr erstes Demo herausbrachten. Waren sie entsetzt, begeistert, überwältigt, schockiert, oder haben vielleicht sogar gelacht? Wir werden es wohl leider nie erfahren, obwohl mich eine solche Umfrage bei den damaligen Protagonisten des Black Metal durchaus reizen würde… auch wenn einige leider nicht mehr antworten können.

Während sich über die 90er Jahre in diversen Ländern aus Szenen stilistische Schulen entwickelten, blieben die Tokioter einfach immer nur – sie selbst. Same same, but very different. Und so ist es bis heute geblieben, nach über dreißig Jahren und zwölf Alben. Das liegt natürlich vor allem an Mirai Kawashima, dessen einzigartige, für vielerlei Einflüsse und Experimente offene Persönlichkeit die Band geprägt hat und stets ihre Entwicklung vorangetrieben hat, die sich vom Black Metal, von Anfang an eng verquickt mit den eigenen kulturellen Wurzeln, mal hin zu Psychedelischem, Progressivem, Noisigem, auch Jazzigem, Neumusikalischem und Soundtrackartigem wandte, und dann wieder zurück zu klassischem Heavy Metal, aber immer mit beiden Beinen in der leicht ver-rückten Avantgarde, und ich musste herzlich lachen, als ich hier sein kurzes Video zur Veröffentlichung von ´Shiki´ sah.

Im Vorfeld erklärte Kawashima, dass er mit dieser Platte seine Angst vor dem Altern und vor allem dem Tod verarbeite, etwas was man mit dem Energiebündel Dr. Mikannibal und den gemeinsamen Kindern an der Seite so nicht erwarten sollte, aber die Wechseljahre machen eben auch vor Männern nicht halt und Marai war ja schon immer ein unerschrockener Pionier, der sich neuen Herausforderungen und Themen stellt.

Es geht aber auch um die Todesstrafe (´Satsui – Geshi No Ato´), Leichname (´Shikabane´) und die profane und gleichzeitig philosophische Feststellung, dass alles, was lebt, sterben muss (´Shoujahitsumetsu´). SIGH verbinden die Gedanken über die Vergänglichkeit zudem mit der Thematik der vier Jahreszeiten, die eben auch auf das menschliche Leben angewendet werden kann.

Kurz und schmerzlos, so soll der Tod möglichst kommen, und so ist ´Shiki´ ein sehr kompakter Paukenschlag geworden, der vom frischen Wind der beiden Neuen an Schlagzeug und Gitarre profitiert, jedoch SIGH in Quintessenz ist. Bei dieser Platte werden sie von Mike Heller (FEAR FACTORY, MALIGNANCY, RAVEN) sowie Frédéric Leclercq, dem KREATOR-Bassisten (u.a. auch SINSAENUM, Ex-DRAGONFORCE), verstärkt und ich bin nicht wirklich verwundert, in meiner ANGSTSKRIG-Rezension, bei denen er ebenfalls Gitarrensoli hinzusteuert, diese Parallele vorweggenommen zu haben; beide sind auch zusammen mit der japanischen Gitarristin Saki bei AMAHIRU aktiv. Den Bass bedient wie immer stoisch und gleichzeitig virtuos das langjährige Bandmitglied Satoshi Fujinami, und alle zusammen haben sie eine gute Dreiviertelstunde richtig viel zu tun, all die kuriosen und genialen Ideen umzusetzen, die dieses zwölfte Album zu einem Dauerbrenner im Player machen.

´Shiki´ heißt jedoch nicht nur “Zeit zu sterben”, sondern lässt sich auch mit „Vier Jahreszeiten“ übersetzen, Mirai ist demzufolge im Herbst seines Lebens und schaut somit auch auf dem Cover sentimental auf die Kirschblüten, dem typisch japanischen Symbol für den Frühling. Er, der schon immer das verkörpert, was man heute allerorten so Kauz nennt, gibt sich keinerlei Mühe, schön zu singen, sondern ganz seinen düsteren Vorahnungen hin, schimpft und krächzt und schreit hemmungslos seinen Alternsschmerz heraus, im zentralen Longtrack ´Kuroi Kage´ schleppt er sich mit letzten Kräften in einem gequält schiefen, sabbathesken Rhythmus vor seinem „schwarzen Schatten“ weg, doch ein typisch strahlendes Leclercq-Solo bringt ihn schließlich sogar dazu, mit ihm ein progressiv-psychedelisches Tänzchen zu wagen. Hier wird meisterlich und auf diversen Ebenen japanische Musik mit Doommetal verquickt. ´Shoujahitsumetsu´ wiederum paart Highspeed-Thrash mit progressivem Melodeath mitsamt entsprechenden Twingitarren, das epische ´Shouku´ prescht mit klassischen galoppierenden Rhythmen voran, und im grandios abgespaceten ´Fuyu Ga Kuru´ weint Mirai sogar bitterlich in seine Querflöte, wenn er nicht gerade den Vocoder malträtiert, auch Dr. Mikannibals Saxophon vermag ihn nicht zu trösten. Doch der Punk’n’Roll-Vibe von ´Shikabane´ erweckt den Untoten wieder zum Leben…

Ich könnte nun mit den weiteren Songs genau so weitermachen, nur hilft das nicht wirklich (und nimmt in diesem Fall auch die Spannung vorweg), denn eine verbale Beschreibung eines SIGH-Stückes wird es niemals in Gänze erfassen können, diese Band muss man hören, spüren, schmecken. Zu viele unterschiedliche Stile werden in ein und demselben Moment zu einem gleichzeitig grellbunten wie geschwärzten, schillernden Gewebe verwoben, ständig, ja sekündlich werden wir von neuen Ideen überrascht, die jedoch stets zusammenpassen, so wie das Drehen durch die Radiofrequenzen in ´Satsui – Geshi No Ato´ aus unzusammenhängenden Dissonanzen ein heimeliges Nostalgiegefühl erzeugt.

So hört man den Einfluss der beiden westlichen Neumitglieder zwar an den für sie bestimmten Stellen deutlich heraus, es bleibt jedoch insgesamt stets einfach SIGH, und wer den Japanern einmal verfallen ist, wird sich mit dieser vielschichtigen Platte voller Reminiszenzen an drei Jahrzehnte Heavy Metal- und Rock-Geschichte nicht nur im aufziehenden Herbst und Winter, sondern in allen Jahreszeiten pudelwohl fühlen, und immer wieder versteckte, geniale neue Details erkennen. Stellte der hochklassige Vorgänger ´Heir To Despair´ japanische Kultur dem Westen noch eher gegenüber, so haben SIGH mit ´Shiki´ das Kunststück geschafft, wirklich alle ihre vielerlei Einflüsse in eine absolut runde Platte zu gießen, die aus dem schwarzmetallischen Yin kommend nun von den Urgründen des Rock über den klassischen Heavy Metal das Yang auffüllt und ergänzt. Mirai und den Seinen seien noch viele weitere so produktive Jahre und künstlerische Höhenflüge gewünscht, und dementsprechend muss auch die Wertung ausfallen:

9,3 Punkte.

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