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Veröffentlichung: 16.01.2023
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Vertrieb: Napalm Records
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Versionen: Digital, CD, Vinyl, Cassette
Stil: Nautik Doom von den Meistern selbst, abyssaler und seelenvoller denn je zuvor
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Ein Mann, zwischen mitfühlendem Humanismus und abgrundtiefem Hass auf die Menschheit zerrissen. Von Forschergeist, Kunst- und Naturbegeisterung genauso angetrieben wie von einem unstillbaren Durst nach Rache und Vergeltung. Genial, geistig hellwach und voller innovativer Ideen, doch innerlich tot, seit er seine Lieben, seine Vision für eine bessere Welt, einfach alles verlor, was sein Leben ausmachte – wer könnte besser für die extremen Kontraste in der Musik von AHAB stehen als le capitaine Nemo, Kommandant der „Nautilus“, der seine Toten auf dem tropischen Meeresgrund begräbt, wo Korallenpolypen sie allmählich in lebenden Särgen einschliessen?
‚The Coral Tombs’, das Covermotiv ist der Korallenfriedhof aus „20.000 Meilen unter den Meeren“, Jules Vernes bekanntestem maritimem Roman, denn diese unterseeische Reise durch alle Weltmeere ist diesmal die literarische Vorlage für das fünfte Album der Nautik Doomer und Begründer dieses Funeral Doom-Subgenres. Doch überraschend schwarzmetallisch melden sich die Süddeutschen zuerst einmal mit einem turbulenten Blastbeat-, Schrei- und Riffgewitter aus ihrer achtjährigen Pause zurück, nämlich mit dem rasant vertonten Angriff des ersten Unterseeboots der Literaturgeschichte auf das Expeditionsschiff von Professor Aronnax und seinen Gefährten. So wie ein Schiffbrüchiger kurz vor dem Ertrinken verzweifelt nach Luft schnappt, hören wir das hysterische, um sein Leben kämpfende Kreischen von Gastsänger Chris Noir von den Kölner Blackmetallern ULTHA, immer wieder unterbrochen von Daniel Drostes abyssal-befehlendem Growlen: „Breeeeathe!“:
„Breathe! – Reverse the engines!
Breathe! – Iron tidal wave …
Breathe! – Breaking the lashing …
Breathe!
My mouth fills with water …
A glimpse of a black mass …
… it disappears in the east …
I’ve seen the antediluvian beast!”
Und dann, nach nur sechzig Sekunden kehrt auf einmal die AHAB-typische tiefe Ruhe ein, die genau so zwischen Leben und Tod eintreten mag und hier in dieser dramatischen Situation gar an Überlieferungen von Nahtodereignissen erinnert, in welchem sich der Ich-Erzähler Professor Pierre Aronnax, französischer Meereskundler in Diensten der US-Regierung und auf der Suche nach einem mysteriösen, schiffeverschlingenden Seeungeheuer, tatsächlich befunden haben mag nach dem Sturz von der „Abraham Lincoln“ in den offenen Atlantik. ‚Prof. Arronax’ Descent into the Vast Oceans’ ist ein in total reduzierte und dadurch so extrem fesselnde musikalische Zeitlupenbewegungen gefasstes fassungsloses Staunen über die Wunder des Ozeans und seiner Bewohner, und all diese Bewunderung fokussiert sich allein auf Daniel Drostes bisher überragendste Gesangsleistung, einen fast zärtlichen Gesang, wie ein Schlaflied, in dem er in tiefster innerer Ruhe bis zu zehn Töne auf eine Silbe packt und so diesen Song ganz allein trägt und ausformt, bis schliesslich ein stellares Solo geradezu PINK FLOYDscher Leadgitarrenarbeit die Führung übernimmt und die Spannung aufzulösen beginnt. Und gleichzeitig die Hörer aus ihrer gänsehautbewehrten Erstarrung befreit, die nicht fassen können, was sie hier gerade als Einstieg serviert bekamen. Dieser Song ist bereits ein Universum für sich, ein Meisterwerk der sich nie ganz auflösenden, gar nicht vollständig erfassbaren Kontraste, und diese wellenförmige Dynamik nimmt das Quartett mit durch das ganze weitere Album, das in seinen Themen immer wieder Parallelen zur heutigen Welt aufgreifen wird.
Doch zunächst einmal müssen die drei Gefährten Prof. Aronnax, sein Assistent Conseil sowie der Harpunier Ned Land erkennen, dass kein todbringendes Seeungeheuer, sondern vielmehr ein futuristisches, menschengemachtes, enorm schnelles und sehr wehrhaftes UBoot für die vielen Schiffsuntergänge der vergangenen Jahre 1866-67 verantwortlich ist, und sie statt Verfolger nun Gerettete und gleichzeitig Gefangene Nemos geworden sind, die die „Nautilus“ zwecks Geheimhaltung nie mehr verlassen dürfen. Stattdessen erleben sie an Bord spannende und unglaubliche Abenteuer wie den Kampf mit den Riesenkraken (das grossartig-stampfende ‚Colossus of the Liquid Graves’ schliesst sich sofort an, zieht alle Beteiligten in die Tiefe und liefert AHAB in Bestform, siehe das verlinkte Video unten) oder gegen Haie, unternehmen in Tauchanzügen Spaziergänge auf dem Meeresgrund, besuchen das untergegangene Atlantis oder bergen spanisches Raubgold, mit dem Nemo heimlich die Freiheitskämpfe unterdrückter Völker finanziert; sie erleben das UBoot als Schutzhülle und Forschungsinstrument, aber eben auch Gefängnis und vor allem todbringendes Werkzeug von Nemos unbezwingbarem Hass auf die machtgierige, die Erde genauso wie ihresgleichen ausbeutende Menschheit – Themen, die nicht aktueller sein könnten.
Wie verrückt und skrupellos sind unsere Kapitäne?
Aber wieso erzähle ich das alles, wenn man diese Science Fiction des 19. Jahrhunderts doch ganz einfach selbst nachlesen kann, hier in solcher Ausführlichkeit nach? Weil man es eben auch hören kann auf ‚The Coral Tombs’‚ und vor allem nachfühlen, was gerade in Vernes Protagonisten vor sich geht und an welcher Stelle des Abenteuers wir uns befinden, das doch vor allem eine Charakterstudie eines tiefunglücklichen Menschen und gleichzeitig Besessenen ist, zerfressen von Rache als vermeintlicher Wiedergutmachung oder sogar Gerechtigkeit, ein Gleichnis auf die Gefährlichkeit von Menschen füreinander, und für den Planeten Erde.. Homo homini (et mundi) lupus.
AHAB haben mehr denn je das Kunststück geschafft einen Soundtrack abzuliefern, der in logischer Folge und mit gleichzeitiger künstlerischer Freiheit einen inneren Film vertont oder sogar erst entstehen lässt, plastisch und greifbar macht, was Jules Verne uns mit seiner Geschichte mitteilen wollte. Aronnax’ Faszination für den genialen Kapitän, der sich für ein Leben jenseits gesellschaftlicher Konvention, doch unter seiner persönlichen Auslegung von Recht und Moral entschieden hat, verhasste Tyrannen und ihre Flotte versenkt, Unterdrückte unterstützt und trotzdem auch immer wieder Unschuldige ermordet sowie den Tod der eigenen Mannschaft in Kauf nimmt, und schliesslich doch erkennen muss, dass sich auf diese Weise keine Gerechtigkeit wiederherstellen lässt – ‚Mobilis in Mobile’ ist sein Glaubensbekenntnis, Zeugnis seiner Selbstüberschätzung und Daniels Glanzleistung im tiefsten Growlen, während die Band strudelnd, stampfend und blastend die unterdrückenden Kräfte immer mehr verdichtet (Grosses Kompliment an Corny Althammer!), wie um allen Beteiligten die Sätze einzubleuen:
„This earth does not need new continents
New men is what it needs!
These tyrants’ failures: immanent.
Where others have failed, I will succeed!„
bis eine abwartende, abwägende Atmosphäre übernimmt und man sich fragen kann, wie die Menschheit aus dieser Situation herausfindet? Nemo glaubt es zu wissen, gerät dabei jedoch musikalisch in immer tiefere, unergründliche und schliesslich auch haltlose Fahrwasser, das schneidende Gitarrensolo nimmt hier das Ende vorweg:
„I am the judge!
I am the law!
And there is the opressor!
Free them drudges!
Venge their flaws!
I swear, I’ll grant them no confessor!„
Ganz entgegen seinem Namen ist das hier anschliessende, phantastische ‘The Sea as a Desert’ ein Lobpreis, eine versöhnliche, gezeitengleich an-und abschwellende Liebeserklärung an den Ozean, startet mit grossartigen mehrstimmigen psychedelisch-orientalischen Gitarren von Christian Hector und Daniel Droste, um dann hypnotisch repetitive, bleischwere und gleichzeitig schwebende Spiralen um tiefe Growls zu drehen, wechselt in poetischen, wunderbar warm und strahlend nuancierten Klargesang, der insbesondere nach der rein akustisch-minimalistischen Passage in der zweiten Hälfte begeistert; wem sich hier nicht die Körperhaare aufstellen, der darf sie auch nie wieder mit Meerwasser benetzen. Spätestens hier muss man die unglaublich fein abgestimmte Schlagzeugarbeit von Cornelius Althammer sowie den extrem elastischen Bass von Stephan Wandernoth lobend erwähnen, die mit exaktestem Timing und empathischem Feingefühl die Leinwand weben, auf der Gitarren und Stimme sich verewigen. Selten wurde Natursehnsucht so zärtlich und doch fesselnd vertont wie in diesem Lied für die Ewigkeit!
Und nun erleben wir den krassen Wendepunkt des Albums mit dem folgenden Titelsong, dem Inbegriff von Trauer und tiefer Melancholie. Die Wellen sind ausladender geworden, brechen schwerfällig, die Geschwindigkeit ist kurz vor der Zeitlupe, Leadgitarre und Klargesang erinnern an die schwermütige 90er-Atmosphäre der Peaceville Three und immer wieder ‚Blackwater Park’-OPETH, die Rhythmusgruppe an Doomjazz, denn einer der Seeleute stirbt, wohl an den Folgen eines erneuten Kampfes, und die Atmosphäre an Bord verdüstert sich bis hin zu verzweifelter Trauer nach seinem unterseeischen Begräbnis auf einem Korallenfriedhof, wo schon so einige Gräber errichtet sind. Der erschütterte Aronnax (mit Klarstimme) versucht in ‚Ægri somnia’, den von diesem Erlebnis ebenfalls schwer mitgenommenen Nemo (growlend) auf die Hintergründe anzusprechen, wird jedoch harsch abgewiesen und erkennt im Folgenden dessen Gefährlichkeit für sich selbst und andere, ja seinen beginnenden Wahnsinn. Das UBoot wird zum schwimmenden Grab, tiefe Trauer und Resignation nach dem Verlust des Kameraden breiten sich aus, Nemo meidet jeglichen Kontakt, auch die Bassaiten beginnen schnarrend zu growlen, wenn sonst kein Wort mehr gesprochen wird. Gleichzeitig werden wir an ‚The Light In The Weed (Mary Madison)’, den verträumten letzten Song des progressiven Vorgängers ‚The Boats Of The Glenn Carrig’ erinnert – und daran, wie lang sieben Jahre auch ausserhalb des Gefängnisses sein können.
Denn das hier sind nicht mehr die AHAB, die wir nun seit fast zwanzig Jahre kennen, die Vier sind noch einmal stark gereift in den sieben letzten Jahren ohne Veröffentlichung neuen Materials, haben in dieser Zeit Familien gegründet und neue Schwerpunkte im Leben gesetzt, aus denen sie nun ihre Ideen, ihre Inspiration und Kraft schöpfen, und das hört man auch, die Gelassenheit ist tiefer, die songwriterische Souveränität gefestigter und die Ziele entsprechend noch höher geworden, auch für Kapitän Nemo – denn die Nautilus fällt in einen bleischweren Schlaf, um Kräfte zu sammeln und zu einem letzten tödlichen Angriff gegen ein Flotten-Dampfschiff aufzutauchen, den diesmal auch die drei Gefangenen, die bisher stets betäubt oder weggesperrt wurden, in all seiner Grausamkeit miterleben. Sie planen, so bald als möglich zu fliehen, während Nemo sich schliesslich in ‚Mælstrom’ in all seiner inneren Zerrissenheit, Verbitterung und Verzweiflung präsentiert:
„I am Captain Nemo,
For some I’m just a deadly brute,
Call me archangel of hate,
But I’m just numb and mute.
I’ve witnessed gloomy times so rough
I shall cherish all I’ve lost,
Almighty God, enough! Enough!„
Er hat erkannt, den falschen Weg gewählt zu haben, die Gitarren nehmen nochmals das Nemo-Motiv des Albumanfangs wieder auf, der Kapitän hat jedoch bereits das Ende beschlossen. Und wie dieser stufenweise langsame Abstieg in die alles zermalmenden Wirbel des Maelstroms von AHAB umgesetzt wird, ist höchste Doom-Kunst: noch langsamer, noch eine Stufe tiefer, noch einen Ticken heavier, und nun darf schliesslich Funeral Doom-Urgestein Greg Chandler von ESOTERIC dem endgültig Wahnsinnigen eine Stimme geben und die letzten Worte behalten:
„Descend! Descend the maelstrom,
´til bolts give way to mighty waves!
Descend! Descend the maelstrom,
´til bolts give way to mighty waves!“
Die drei Gefährten können sich jedoch retten und der Welt berichten, was sich tatsächlich auf dem Grunde des Meeres zugetragen hat. Und mit AHABs Hilfe nun noch viel mehr Menschen erreichen, denn es sind wahrlich kolossale Ohrwürmer, die das Quartett da erschaffen hat und gleichzeitig einige der schönsten Melodien ihrer bisherigen Karriere, was schon etwas heissen will bei einer Band, die sich den tiefsten Abgründen der Meere und menschlichen Seelen verschrieben hat. Jeder einzelne Akteur brilliert in diesem einzigartigen, mal abyssal heavyen, dann wieder gischtleichtem Zusammenklang, der selbst wie ein Meeresorganismus pulsiert und lebt. ‚The Coral Tombs’ ist nicht nur ihre selbstbewussteste, emotional und musikalisch kontrastreichste und gleichzeitig ausgewogenste, sondern vor allem die technisch und kompositorisch vollkommenste Platte der Heidelberger, ein Meisterwerk, das nicht nur in 2023 seinesgleichen suchen wird. Kudos, AHAB, das ist zeitloser Doom in Perfektion!
Bandinfo:
AHAB sind Cornelius Althammer (Drums & Percussion), Daniel Droste (Vocals & Guitar), Christian Hector (Guitar) und Stephan Wandernoth (Bass).
www.ahab-doom.de
www.facebook.com/AhabDoom
www.instagram.com/ahabdoom
Diskographie:
The Call of the Wretched Sea (LP, 2006)
The Divinity of Oceans (LP, 2009)
The Giant (LP, 2012)
The Boats Of The Glenn Carrig (LP, 2015)
Live Prey (Livealbum, 2020)
The Coral Tombs (LP, 2023)
„From far beneath the sea,
ascend the dwellers of the deep,
In roaring they shall rise
and on the surface die.Colossus, obnoxious guise,
Captain gathered tears in his eyes.(Colossus, under the waves,
Captain gazing into our liquid graves.)“
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