Teil II – Sexualisierte Gewalt, Sexismus und das Patriarchat
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TRIGGERWARNUNG: sexualisierte Gewalt!
Nachdem wir geklärt haben, wie verbreitet Gewalt gegen Frauen in unserer Gesellschaft ist, stellt sich die Frage, wieso das Thema nicht viel umfassender diskutiert wird, sondern vielmehr in der Öffentlichkeit kaum vorkommt? Was für eine Rolle sexualisierte Gewalt spielt und wie die Rechtslage sich dazu über die Zeit entwickelt hat? Und wieso es Betroffenen so schwergemacht wird, mit ihren Erfahrungen an die Öffentlichkeit zu gehen? Die Gründe hierfür sind komplex, da sie vor allem von den jeweiligen Grundwerten aller Beteiligten und der Gesellschaft, in der sie leben, abhängen. Aufseiten der Opfer* sind Schamgefühle, Selbstvorwürfe und auch einfach der Wunsch, Geschehenes zu verdrängen, um wieder gesunden zu können, mehr als verständliche Gründe zu schweigen, auf der anderen Seite haben wir eine Gesellschaft, die sich ihren dunklen Seiten und deren sozialen und politischen Hintergründen wenn überhaupt, dann nur ganz allmählich stellen will, und sie lieber tabuisiert. Oder die sich gleich auf die Seite der Täter stellt. Wie wirkmächtig Täter-Opfer-Umkehr sein kann, hat zuletzt der Prozess Heard/Depp gezeigt, der dem Schauspieler nicht nur 10 Mio. Dollar Schadensersatz einbrachte, sondern auch seiner Karriere einen ganz neuen Schwung gab – trotz Beweisen, dass er gegen seine damalige Frau Mordgedanken hegte. Der Hauptgrund für all das ist das Patriarchat als grundlegende Herr-Schaftsstruktur, dessen geschlechtsbezogene Machthierarchie Frauen nicht nur dann die Luft zum Leben nimmt, wenn sie tatsächlich gewürgt werden (was übrigens die meistverwendete Mordmethode an Frauen ist…!), sondern ihr komplettes Leben kontrollieren will. Welcome back to the 50ies, today!
Sexualisierte Gewalt und ihre vielfältigen Folgen
Sexualisierte Gewalt ist nicht gleich Vergewaltigung, sondern fängt schon deutlich früher an, die Grenzen zwischen Sexismus (das sind Grenzverletzungen, Herabwürdigungen und Machtmissbrauch aufgrund des Geschlechts) und Gewalt sind dabei fliessend, alltäglicher Sexismus ist ein Nährboden für sexualisierte Gewalt. Sie umfasst jegliche Verhaltensweisen, die mit Sexualität verbunden werden können und gegen den Willen des Opfers vollzogen werden – da fällt Hinterherpfeifen oder Tuscheln unter Kollegen genauso darunter wie ein ungefragtes Dickpic, denn auch diese sind Machtdemonstrationen: schau her, ich kann mit dir machen, was ich will – ganz egal, was du willst! Die Bezeichnung „sexualisierte Gewalt“ (statt „sexueller Gewalt“) soll genau dies ausdrücken – hier geht es nicht um selbstbestimmte, lustvolle Sexualität, sondern allein um Demütigung und Machtausübung. Nicht umsonst sind Vergewaltigungen aller Geschlechter und Altersstufen, wie sie in Kriegen üblich sind, ein so unmenschliches wie wirksames Mittel um den Gegner zu demoralisieren und zu unterwerfen, ihm zu signalisieren, dass er nicht in der Lage war, den Körper der Frau, der im Patriarchat als sein Besitz gilt, zu beschützen. Im Rahmen von Kriegsvergewaltigungen überlagern sich zudem oft sexistische und rassistische Motive: Eine Frau wird zB als Symbol einer anderen ethnischen Gruppe gesehen und ihre Vergewaltigung demonstriert dann die Überlegenheit über diese – auch dies eine tief patriarchale Deutungsweise. Die dadurch hervorgerufenen Traumata wirken oft noch viele Generationen später weiter, sie sind eine wahre Saat des Bösen und zerstören Leben, durch körperliche wie seelische Verletzungen. Tatsächlich sehen gerade sehr junge Opfer nach Vergewaltigungen gerade durch die ihnen auferlegte Scham häufig keinen anderen Ausweg als den Suizid, die Rate versuchten und erfolgreichen Suizids ist mehr als 13% höher als bei Nicht-Kriminalitätsopfern. Umso wichtiger ist ein den Opfern zugewandter Umgang mit dieser Thematik.
Um die breite gesellschaftliche Relevanz der Thematik für das als so progressiv angesehene Deutschland zu beleuchten: Vergewaltigung in der Ehe ist erst seit 1997 ein Straftatbestand, der nach langem parlamentarischem Ringen auch gegen die Stimmen männlicher, noch heute in Schlüsselpositionen aktiver, konservativer Politiker wie Seehofer und Merz durchgesetzt wurde. Zuvor galt von Seiten des Bundesgerichtshofs (!):
„Die Frau genügt ihren ehelichen Pflichten nicht schon damit, dass sie die Beiwohnung teilnahmslos geschehen lässt.“
„Wenn es ihr versagt bleibt, im ehelichen Verkehr Befriedigung zu finden, so fordert die Ehe von ihr doch eine Gewährung in ehelicher Zuneigung und Opferbereitschaft.“
„„ … und verbietet es, Gleichgültigkeit oder Widerwillen zur Schau zu stellen.“
Unverheiratete Frauen waren damit vor dem Gesetz besser gestellt als Ehefrauen, die bzw. deren Körper als Besitz des Ehemanns angesehen wurden – und ihm in jeglicher Weise stets zur Verfügung stehen mussten… ohne dass er dafür juristische Folgen zu erwarten hätte.
Zahlen zu häuslicher Gewalt werden überhaupt erst seit wenigen Jahren von den zuständigen Behörden erhoben. Das öffentliche Interesse an Frauen als Gewaltopfern ist also weiterhin äusserst gering, was sich auch in der extremen Unterversorgung von Betroffenen, etwa durch Frauenhäuser als letzte Fluchtmöglichkeit, zeigt, von denen es zum einen viel zu wenige gibt, die zum anderen immer wieder neu um ihre Finanzierung kämpfen müssen.
Erst vor acht Jahren wurde nach langem feministischem Kampf endlich das deutsche Sexualstrafrecht reformiert. Bis 2016 wurde nur wegen Vergewaltigung bestraft, wer einen anderen Menschen mit Gewalt oder Drohung zu sexuellen Handlungen gezwungen hat, heute ist auch strafbar, wer solche Handlungen an einer anderen Person gegen ihren Willen vornimmt, also obwohl sie das erkennbar ablehnt. Der Grundsatz „Nein heißt Nein“ ist damit auch im deutschen Strafrecht verankert. Seitdem werden deutlich mehr Taten angezeigt als vor der Reform. Vielleicht auch, weil etwas bekräftigt wurde, das die öffentliche Meinung in Teilen immer noch anders zu sehen scheint: die Verantwortung für die Gewalttat liegt allein und ausschließlich beim Täter/der Täterin. Betroffene tragen keine Schuld und keine Verantwortung für die Tat. „Victim Blaming“ oder Täter-Opfer-Umkehr, die die Traumatisierung der Opfer nur noch verstärken, sollte damit eigentlich der Boden entzogen werden; dass dem leider nicht so ist, sehen wir an der aktuellen Diskussion und Stimmen wie: „Wer sich so freizügig aufgemacht in die Row Zero einladen lässt, weiss doch, was der Deal ist – ein bisschen Fame und Freigetränke gegen Fan spielen, Jubeln und sexuelle Verfügbarkeit„. Nein, das ist eben nicht der Deal – denn auch hier gilt: „Nein heisst Nein!“.
Deutschland hat erst 2017 die bereits 2011 ausgearbeitete Istanbul-Konvention ratifiziert, einen völkerrechtlichen Vertrag des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, und muss „nun die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen Maßnahmen zu treffen, um Opfern von Vergewaltigung und sexuellen Übergriffen medizinische und gerichtsmedizinische Untersuchungen, Traumahilfe und Beratung anzubieten sowie die anzeigenunabhängige Spurensicherung flächendeckend zu gewährleisten“ (Quelle: Wikipedia), und eben für all das und auch mehr Beratungsstellen und Frauenhäuser mehr Geld zur Vefügung stellen. Erstunterzeichner Türkei, damals noch unter Gül, ist 2021 unter Erdoğan wieder ausgetreten, Polen spielt aktuell mit dem selben Gedanken. Auch hier sehen wir also das Feministische Paradox wirken: es gibt Fortschritte bei der Gleichstellung, aber genauso Rückschläge, Frauen können sich einmal erstrittener Siege nie sicher sein.
Ein paar Fakten:
Sexualisierte Gewalt ist ein massiver Eingriff in die Intimsphäre einer anderen Person gegen ihren Willen. Es handelt sich dabei um eine Zuwiderhandlung gegen das rechtlich geschützte sexuelle Selbstbestimmungsrecht. Sie wird oft als Mittel zur Demütigung und Machtdemonstration angewandt. Bundesweit kommt es jährlich zu etwa 12.000 bis 13.000 Anzeigen wegen Vergewaltigung oder sexueller Nötigung – und hinzu kommt ein nicht unerhebliches Dunkelfeld.
Sexualisierte Gewalt bezeichnet jeden Übergriff auf die sexuelle Selbstbestimmung. Die Täter – weit überwiegend sind es Männer, auch wenn sexualisierte Gewalt ebenfalls von Frauen ausgehen kann – zwingen den Betroffenen ihren Willen auf. Es geht also nicht um Lust oder Erotik, sondern um Machtverhalten. Sexualisierte Gewalt wertet Menschen durch sexuelle Handlungen oder Kommunikation gezielt ab, demütigt und erniedrigt sie.
Nicht nur körperliche Übergriffe wie Vergewaltigung oder sexuelle Nötigung zählen zu dieser Form von Gewalt. Auch sexuelle Belästigungen und jede Form unerwünschter sexueller Kommunikation zählen dazu – obszöne Worte und Gesten, aufdringliche und unangenehme Blicke, das Zeigen oder Zusenden sexueller Inhalte und/oder von Pornografie.
Sexualisierte Gewalt ist in unserer Gesellschaft weit verbreitet. Nach repräsentativen Befragungen erleben zwei von drei Frauen in ihrem Leben sexuelle Belästigung. Jede siebte Frau wird Opfer schwerer sexualisierter Gewalt. Frauen mit Behinderung sind zwei bis dreimal häufiger von sexueller Gewalt betroffen als Frauen ohne Behinderungen.
Repräsentative Befragungen zeigen aber auch: jeder dritte Mann ist bereits Opfer sexistischer Übergriffe geworden.
(Quelle: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend)
Vergewaltigung
Vergewaltigung ist jegliches Eindringen in den Körper oder der Versuch des Eindringens in den Körper einer Person ohne deren Einverständnis. Alle drei bis fünf Minuten wird in Deutschland eine Frau oder ein Mädchen vergewaltigt. Vergewaltigung ist ein Verbrechen. Es ist die extremste Form sexualisierter Gewalt, bei der Sexualität als Mittel zur Machtdemonstration, Demütigung und Unterwerfung von Menschen eingesetzt wird. Die Betroffenen fühlen sich ohnmächtig, hilflos, gedemütigt und erleben häufig einen völligen Kontrollverlust über ihren Körper. Während der Vergewaltigung empfinden sie entsetzliche Angst, häufig Todesangst. Vergewaltigung ist eine massive Verletzung der Persönlichkeit, die besonders eingreifend und zerstärerisch wirkt – von diesem Tag an ist alles radikal anders und nichts wird wieder so sein wie zuvor, das Leben teilt sich in davor und danach.
Es gibt viele Vorurteile und Mythen über Vergewaltigung. Diese dienen dazu, den Betroffenen eine Mitschuld an der Tat zu unterstellen oder die Gewalt mit dem Verhalten des Opfers zu begründen, zu erklären oder zu rechtfertigen. Solche Mythen tragen dazu bei, die Taten zu bagatellisieren und die TäterInnen zu entlasten. Dabei steht fest: Betroffene tragen keinerlei Schuld oder Verantwortung für die Tat, egal wie sie sich verhalten haben, was sie getragen haben, wo sie unterwegs waren – diese liegen allein beim Täter!
Folgen einer Vergewaltigung
Jede betroffene Person befindet sich nach einer Vergewaltigung in einem psychischen Ausnahmezustand. Die Reaktionen der Betroffenen können sehr unterschiedlich sein. In der Folgezeit leiden sie häufig unter starken Angstzuständen, Traumafolgestörungen wie PTSD sowie Scham- und Schuldgefühlen. Manche Opfer entwickeln psychosomatische Störungen, leiden unter Alpträumen, Depressionen oder Suizidgedanken. Erfahrungsgemäß ist es für Betroffene sehr schwierig, eine Vergewaltigung alleine zu verarbeiten. Manchmal dauert es jedoch sehr lange, bis sie sich dazu entschließen können, Hilfe zu suchen.
(Quelle: Beratungsstelle gegen sexualisierte Gewalt, Bonn)
Bei Vergewaltigung und sexueller Nötigung in Partnerschaften sind die Opfer zu über 96% weiblich, bei Stalking und Bedrohung in der Partnerschaft sind es 77%. Bei sexualisierter Gewalt gegen Frauen sind 99 Prozent der Täter männlich, bei sexualisierter Gewalt gegen Mädchen* und Jungen* sind es 80 bis 90 Prozent.
(Quelle: http://www.gleichstellungsportal.de/)
Die niederländische Band GGGOLDDD hat im vergangenen Jahr ein grossartiges Konzeptalbum herausgebracht, das sich allein mit der Erfahrung einer Vergewaltigung durch einen Ex-Partner beschäftigt, und es ‚This Shame Should Not Be Mine’ genannt. Sängerin Milena Eva durchlebt darin ein weiteres Mal ihre eigene traumatische Erfahrung, inklusive widerstrebender Gefühle: zum einen nicht mehr daran denken zu wollen, aber andererseits die Scham und tiefe Traumatisierung nicht loszuwerden, und macht sie damit nachvollziehbar. Keine leichte Kost, doch gerade für männliche Hörer, die sich in eine solche grauenhafte Situation und ihre Folgen einfühlen wollen, extrem zu empfehlen! Die Liveversion vom Roadburn Redux Festival 2022 ist dabei noch ergreifender als die Studioaufnahme.
Anhand all dessen sollte klargeworden sein: da sexualisierte Gewalt auf Dominanz beruht und gerade darauf abzielt, das Opfer zu demütigen, zu verängstigen und durch Schuld- und Schamgefühle zu stigmatisieren und damit davon abzuhalten, sich Hilfe zu suchen, ergo: zum Schweigen zu bringen, wird der Großteil der Taten überhaupt nicht oder erst viel, manchmal erst viele Jahre später angezeigt, wenn das Opfer die Kraft und vor allem den Mut dazu wiedergefunden hat, sich einer behördlichen Untersuchung zu stellen. Nicht wenige Opfer spalten die Erinnerung an die Tat so in ihrer Psyche ab, dass sie sich tatsächlich nicht mehr daran erinnern können, und bleiben somit traumatisiert ohne zu wissen warum, bis ein Ereignis das Gedächtnis wieder öffnet, andere werden immer wieder durch Gerüche, Stimmen oder anderes getriggert und durchleben somit die Gewalterfahrung immer wieder neu. Beschuldigungen wie das gerade viel zu lesende „Jetzt auf einmal wo es in der Presse ist, kommen die alle mit uralten Geschichten an, die eh keiner mehr beweisen kann, nur um sich wichtig zu tun“ zeigen nicht nur mangelnde Empathie, sondern vor allem, dass sich viele überhaupt nicht in die Situation der Opfer einfühlen können – gerade für Männer, die selbst den alltäglichen Sexismus und die latente Bedrohung durch sexualisierte Gewalt nie zu spüren bekommen, scheint dies oft nicht nachvollziehbar zu sein. Umso wichtiger ist jedoch, den Opfern Glauben zu schenken, ihre Stimme wahrzunehmen und sie zu unterstützen – und sollten sie tatsächlich zu dem sehr geringen Anteil derer gehören, die Falschbeschuldigungen aussprechen, wird die Justiz dies auch herausfinden und als das bestrafen, was sie sind – eine Straftat. Übrigens erleiden statistisch gesehen mehr Männer selbst Gewalt, als Männer falsch beschuldigt werden… ein Thema, das ebenfalls tabuisiert wird.
Das bedeutet aber auch, sich endlich von Rape Culture zu verabschieden. Der Begriff bezeichnet eine Mentalität bzw gesellschaftliche Struktur, die sexualisierte Gewalt normalisiert und fördert („Stell dich nicht so an, du willst es doch auch“, „Das ist halt Rock’n’Roll, Groupies gabs schon immer…“), die Schuld dafür bei den Opfern sucht und Täter in Schutz nimmt. Rape Culture erleichtert es Tätern, die Schuld von sich zu weisen, während Betroffenen vorgeworfen wird, sie würden lügen, Aufmerksamkeit suchen („…für ein bisschen fame…“, „wer backstage geht, muss wissen worauf sie sich einlassen“) oder hätten es nur darauf abgesehen, dem Täter „das Leben zu ruinieren“. Solche Sichtweisen zeigen, wie tief Frauenfeindlichkeit und Sexismus in der Gesellschaft immer noch verankert sind. In dieser Atmosphäre verwundert es kaum, dass die meisten Betroffenen ihre Erlebnisse nicht öffentlich machen und auch keine Anzeige erstatten – aus Angst, dass ihnen nicht geglaubt wird, dass sie selbst dafür beschuldigt und angefeindet werden, und dass Konsequenzen am Ende sowieso ausbleiben, weil die Beweislage schwierig ist.
Der letzte Punkt ist tatsächlich leider oft problematisch: wenn nicht sofort Indizien gesichert werden, ist es ungleich schwerer, vor Gericht um langwierige und belastende Befragungen herumzukommen. Gewaltopfern wird daher geraten, sofort sämtliche Spuren, sei es am Körper oder der Kleidung, zu sichern, das kann im Krankenhaus, bei einer Gewaltambulanz oder der Polizei geschehen. Mögliche ZeugInnen des Vorfalls sind natürlich genauso wichtig wie ggf. vorhandene Aufnahmen. Eine Vergewaltigung ist ein medizinischer Notfall und erfordert ärztliche Betreuung! Mehr Infos dazu gibt es zB hier.
Eine weitere Ebene patriarchaler Gewalt, die aktuell wieder an Gewicht gewinnt, bilden Eingriffe in unsere körperliche und sexuelle Selbstbestimmung, so etwa die verschärften Abtreibungsgesetze bzw. -verbote wie jetzt in Texas oder in Polen, die sichere Schwangerschaftsabbrüche erschweren und sogar eine Vergewaltigung nicht als Abtreibungsgrund anerkennen – wo sich dann der Kreis totaler männlicher Kontrolle schliesst. Parallel dazu soll der Zugang zu Verhütungsmitteln erschwert werden, um dem Bevölkerungsrückgang entgegenzuwirken. Frauen werden so zu Gebärmaschinen, die dem Staat, ungeachtet ihres eigenen Interesses nach Selbstverwirklichung, Nachkommen zu liefern haben und damit die eigene Karriere, das eigene Leben zurückzustellen, und dieses Szenario ist in einigen Bundesstaaten der USA nun bereits traurige Realität oder zumindest im legislativen Prozess. Auch diese Rücknahme längst erstrittener Rechte durch Ultrakonservative zusammen mit einem Bündnis verschiedener religiöser Organisationen, an der Spitze dem Vatikan, die gerade weltweit zu beobachten ist, ist Teil des aktuellen Backlash und erfordert unseren aufmerksamen Widerstand, wenn wir nicht riskieren wollen, die Kontrolle über Frauenkörper komplett an den – weiterhin männlich dominierten – Staat zu verlieren.
Was treibt die Täter an?
Doch woher kommt die Motivation zu all dieser sexualisierten Gewalt, was treibt die Täter an? Dies abschliessend zu beantworten ist extrem schwierig, da es weder die eine typische Täterpersönlichkeit gibt noch ein spezifisches soziales Milieu, in dem sich Übergriffe häufen, da geschlechtsbezogene Gewalt in allen Bildungs-, Einkommens- und Altersgruppen auftritt. Mittlerweile hat sich in der Forschung eine multikausale Perspektive durchgesetzt, die sowohl situative, individuelle als auch strukturelle Gründe heranzieht. Alkoholkonsum kann beispielsweise die Entstehung geschlechtsbezogener Gewalt zwar nicht alleine erklären, seine Relevanz als Risikofaktor für verschiedene Gewaltformen wurde jedoch wiederholt aufgezeigt. Desweiteren ist sowohl das eigene Erleben häuslicher oder elterlicher Gewalt als ein Risikofaktor für das Ausüben von Gewalt nachgewiesen, denn Gewalt wird gelernt. Wer in der eigenen Kindheit nur gewalttätiges Verhalten und Dominanz des Stärkeren erlebt hat, wird auch als Erwachsener sehr wahrscheinlich dieses Verhalten zeigen. Jungen, die in gewaltaffinen Familien aufwachsen, haben ein deutlich größeres Risiko, später selbst zu Tätern zu werden und entsprechend zeigt sich, dass Frauen, die in der Herkunftsfamilie Gewalt erlebt haben, wesentlich häufiger Gewalt auch in ihren späteren Beziehungen erleben.
Als strukturelle Aspekte bei der Entstehung von Gewalt gegen Frauen spielen vor allem patriarchale gesellschaftliche Strukturen männlicher Dominanz und dadurch geprägte Rollenvorstellungen eine wichtige Rolle, die auch in heutigen – modernen – Gesellschaften noch immer wirken. Darin enthalten sind klischeehafte Männer- und Frauenbilder, die Männlichkeit als Macht, Stärke, Dominanz, auch Aggression definieren und Weiblichkeit mit Duldsamkeit, Passivität, Unterlegenheit verbinden. Hier spielen vor allem gefühlter Kontrollverlust und die (vom Täter empfundene) Gefährdung der eigenen Machtposition eine Rolle:
„Im männlichen Selbstverständnis wird Männlichkeit noch immer definiert als Ausübung von Macht und Kontrolle, Stärke, körperliche Kraft, Führung, Erfolg, Ehrgeiz und Konkurrenz. In patriarchalischen Gesellschaften wachsen Jungen oftmals mit diesen Rollenerwartungen auf. In modernen Gesellschaften, die ihren verfassungsmäßig verankerten Anspruch auf Gleichberechtigung ernst nehmen, müssen sie zwangsläufig mit diesem Rollenverhalten scheitern. Dennoch haben viele Männer noch dieses archaische Rollenverständnis verinnerlicht. Nach ihrem Selbstverständnis ist körperliche und auch psychische Gewalt ein legitimes und männliches Mittel, die eigenen Interessen durchzusetzen.„
Dennoch: Die Verantwortung für die Gewalt kann nicht auf gesellschaftliche Gegebenheiten oder die individuelle Biographie abgewälzt werden. Sie liegt immer auch beim Aggressor, denn zuzuschlagen oder nicht ist – bei einem psychisch gesunden Menschen – immer eine freie Entscheidung. Jedes Mal.“
(Quellen: 1. Bundeszentrale für politische Bildung: Deborah F. Hellmann – Gewalt gegen Frauen in Deutschland, 2023; 2. TERRE DES FEMMES E.V. – https://www.frauenrechte.de/)
So kann man die Tötungsphantasien der TikTok-Challenge als gewaltsame Vorwegnahme möglichen Scheiterns bei einem Date interpretieren, und auch erklären, wieso Attentate mit Incel-Hintergrund, wie bisher vor allem aus den USA bekannt, auch hierzulande zunehmen. Der Attentäter von Winnenden tötete gezielt Lehrerinnen und Mitschülerinnen und gab in seinen Aufzeichnungen Frauenhass als Motiv an. Beruflich erfolgreiche und selbstbestimmte Frauen werden vielfach als Bedrohung der eigenen Lebensplanung angesehen, da mann sich ihnen nicht partnerschaftlich gewachsen fühlt – der Backlash lässt grüssen. Junge, aber auch erwachsene Männer kommen heute immer öfter mit ihrem Rollenverständnis an Grenzen, denn toxische Männlichkeit wird nicht mehr akzeptiert. Als Gesellschaft haben wir also Einfluss auf den strukturellen Anteil an Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, und sind gerade durch die Wiederholung erlernten Rollenverhaltens aufgefordert, den Zyklus der Gewalt zu unterbrechen. Dies gilt es in allen Lebensbereichen zu tun, von der Erziehung über Ausbildung und Berufsleben bis zu Freizeitgestaltung und Freundeskreis – hier sind wir explizit alle gefordert, Sexismus stets anzuprangern und ein gleichberechtigtes Miteinander durchzusetzen. Dies gilt auch und gerade im kulturellen Leben, das viele Menschen zusammenbringt. Womit wir endlich wieder zur Musik und Konzerten kommen – welche Rolle Sexismus im Rock und Metal spielt, schauen wir uns in Teil III an…
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Gewalt gegen Frauen – bundesweites Hilfetelefon
Soforthilfe bekommen Frauen über das bundesweite Hilfstelefon „Gewalt gegen Frauen“ unter der kostenfreien Nummer 08000 116 016 (24 Stunden am Tag besetzt). Auf der Seite des Hilfstelefon (https://www.hilfetelefon.de/) gibt es ein umfassendes Onlineangebot für Frauen. Die Seite kann man auch anonym besuchen. Beratung ist in 18 Sprachen möglich.
*Dieser Text benutzt aufgrund vieler Zitate den selbst stigmatisierenden Begriff „Opfer“, die Autorin ist sich jedoch bewusst, dass wir bessere Begriffe finden und verwenden müssen, um aus der Opferrolle herauszukommen…
Titelbild: © Dominik Heinkele, 2022
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