METAL, MACHT, MISOGYNIE – im Lichte der Diskussion zur Causa RAMMSTEIN – Teil I

I – Eine Einordnung in die aktuelle Lebenswirklichkeit von Frauen

Es hat was von einem Vulkanausbruch – auch wenn ein Ereignis lange überfällig ist, wenn es dann plötzlich eintritt, passiert alles viel zu schnell und gleichzeitig, die Situation wird unübersichtlich und die Reaktionen darauf chaotisch und oft widersprüchlich. Der von Frauenseite lange erwartete #metoo-Skandal in der Musikbranche, haben wir ihn nun endlich durch die Causa RAMMSTEIN? Noch sind wir ganz am Anfang, es werden aktuell weiter durch die Medien Indizien zusammengetragen, die behördlichen Ermittlungen haben vermutlich noch nicht einmal begonnen (EDIT 14.06.23 – seit heute ist bekannt, dass die Berliner Staatsanwaltschaft Ermittlungen eingeleitet hat), was jedoch gleichzeitig die Chance beinhaltet, genau dieses Momentum zu nutzen und aus „Rammelstein“ die dringend notwendige gesellschaftliche Diskussion zu machen, die klärt, wie der Sexismus im Musicbiz bekämpft und ausgerottet werden kann. Also los, auf die Barrikaden!

Doch – was passiert da gerade? Überall sind sehr laute Stimmen zu hören, die Frauen anklagen: dafür, dass sie den Mund bei der Polizei und in Social Media aufgemacht haben und einen Rockstar beschuldigt, dafür, dass sie ihn back- oder gar under stage aufgemacht haben für denselben Rockstar, aber erst viel später gegenüber den Medien, dafür, dass sie ihr Hirn ausgeschaltet hätten, als sie sich für die im Bandslang „Schlampenparade“ casten liessen oder auch dafür, dass sie es dafür nutzten, um einen Diskurs darüber anzustossen, was Kunst darf und was nicht. Das Thema ist komplex und vielschichtig, die Vorgeschichte lang, tabubelegt und undurchsichtig, die betroffene Band eine Art deutsches Gegen-Kulturdenkmal und gleichzeitig ein Konzern, seine Wirtschaftskraft immens und seine Kontroversität legendär, und folglich kochen die Emotionen durch die Anschuldigungen sexualisierter Gewalt hoch wie brodelnde Lava – das Wort der Stunde ist „Unschuldsvermutung“, wobei viele, die es in den Mund nehmen vergessen, dass auch diese für beide Seiten, Beschuldigte wie AnklägerInnen, gilt.

Das Internet bietet beiden Seiten unendlich viel Raum, denen, die endlich etwas ändern wollen am sexistischen Filz der Macht- und Abhängigkeitsstrukturen in der Unterhaltungsindustrie, die auch nur die Situation von Frauen und Minderheiten in der Gesellschaft widerspiegeln, sowie denen, die am liebsten alles so lassen wollen wie es ist, weil es sie gefühlt ja eh nicht betrifft und sie sogar von patriarchalen Strukturen zu profitieren glauben, oder weil sie tatsächlich Macht abgeben müssten, ginge es der männlichen Vormachtstellung an den löchrigen, speckigen Kragen.

Das feministische Paradoxon

Jede Seite hat ihre intrinsische Motivation, doch es ist der Zeitpunkt, an dem diese Vorwürfe auftauchen, der so problematisch ist – befinden wir uns doch gerade mitten in einem geschlechterpolitischen Backlash, der Hass gegen Frauen und andere Minderheiten in bislang nie gesehenem Ausmass befördert. Ein Backlash oder Rollback wird von FrauenrechtlerInnen als patriarchale Gegenreaktion auf Erfolge der Frauenbewegung verstanden – nach jeder feministischen Welle, die gesellschaftliche Fortschritte der Gleichberechtigung auch in liberaleren Gesetzen festschreiben konnte, folgte als Gegenreaktion eine Phase reaktionärer Zurücknahme dieser neu erworbenen Freiheiten, bis die feministischen Kräfte schliesslich mit der nächsten Welle wieder neue Erfolge verbuchen konnten.

Mittlerweile handelt es sich nach u.a. der deutschen Autorin Susanne Kaiser, deren jüngstes Buch Backlash ich allen Interessierten an diesem Thema empfehle, bei dieser Reaktion jedoch nicht mehr um eine zeitlich abfolgende Pendelbewegung, sondern eine gleichzeitig auseinanderlaufende Schere, genannt das „feministische Paradox“: je weiter die Gleichberechtigung aller Geschlechter voranschreitet, desto stärker nimmt die Gewalt gegen Frauen (und gleichzeitig auch gegen nicht-binäre Personen und sogar Kinder) zu, und zwar weltweit. Das Patriarchat schlägt zurück, am liebsten mit dem „Strong Arm oft the Law“, Beispiele sind die Rücknahme des Abtreibungsrechts nach Roe vs. Wade in den USA, die Anti-LGBTQ-Gesetzgebung in Florida, ähnliche neue Gesetze in Polen und Ungarn oder die juristisch verfügte Steinigung Homosexueller in Brunei. Deutschland hat es zwar endlich geschafft, den Paragraph 219a zu streichen, 218 ist jedoch weiterhin Teil des Strafgesetzbuches und Abtreibung bleibt damit kriminalisiert. Gleichzeitig werden in vielen Ländern gerade progressive weibliche Regierungen wieder durch reaktionäre, meist männlich geführte Regierungen ersetzt; ob diese ebenfalls hart erkämpfte Fortschritte der Frauen- und LGTBQ-Bewegung zurücknehmen werden, bleibt abzuwarten.

Was beutet all dies jedoch für die Lebenswirklichkeit von Frauen? Ein paar Zahlen zur Einordnung:

Jede dritte Frau weltweit ist mindestens einmal in ihrem Leben von physischer und/oder sexueller Gewalt betroffen – meist innerhalb der Partnerschaft, jede Vierte hat Gewalt durch aktuelle oder frühere Beziehungspartner erlebt; in einigen Regionen erleiden sogar bis zu sieben von zehn Frauen Gewalt durch ihren Partner. 40% der Frauen in Deutschland haben seit ihrem 16. Lebensjahr körperliche und/oder sexualisierte Gewalt erlebt. 13% haben seit dem 16. Lebensjahr strafrechtlich relevante Formen sexualisierter Gewalt erfahren. 42% waren von psychischer Gewalt betroffen. Frauen erleben Gewalt vor allem im sozialen Nahraum: Familie, Partnerschaft, Bekanntenkreis. Bestimmte Gruppen von Frauen, wie z.B. Frauen mit Behinderungen, sind in deutlich höherem Maß von Gewalt betroffen.

In Deutschland erleben 2 von 3 Frauen sexuelle Belästigung, 24% werden Opfer von Stalking und 42% erleben Formen psychischer Gewalt (Quellen: Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben, Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe), wobei letztere sowohl entsprechende Erziehung als auch Manipulation und Praktiken wie Victim Blaming und Gaslighting umfasst und damit die Unterwerfung von Frauen sichern will. Passend dazu ergab eine aktuelle Umfrage, dass „33 Prozent der befragten Männer im Alter von 18 bis 35 Jahren … es „akzeptabel“ oder „eher akzeptabel“ finden, wenn ihnen im Streit mit der Partnerin gelegentlich „die Hand ausrutscht“. 34 Prozent geben an, gegenüber Frauen „schon mal handgreiflich“ zu werden, um ihnen Respekt einzuflößen“. Traditionelle Rollenbilder haben also weiterhin Bestand, auch in jüngeren Generationen, Incels und TikTok-Femizidchallenge lassen grüssen.

In der Realität gibt es in Deutschland jeden Tag einen polizeilich registrierten Tötungsversuch an einer Frau, jeden dritten Tag stirbt eine Frau, getötet meist durch ihren Partner oder Ex-Partner. All dies wird jedoch hierzulande weiterhin nicht als Femizid – dem Mord an Frauen wegen ihres Geschlechts vor dem Hintergrund geschlechtsspezifischer Macht- und Hierarchieverhältnisse – sondern als „Beziehungstat“ und damit (versuchtem) Totschlag verhandelt, was deutlich geringere Strafmaße nach sich zieht. Und von der entsprechend hoch eingeschätzten Dunkelziffer, die nach Studienlage ca. zwei Drittel der weiblichen Betroffenen ausmacht, die aus Angst, Scham oder sozialer Isolierung Straftaten gar nicht erst anzeigen, sowie von vermissten Frauen sprechen wir hier noch gar nicht…
Viele Frauen haben Angst, zur Polizei zu gehen – weil sie fürchten, dass ihnen nicht geglaubt wird, weil die tiefgehenden Befragungen im Ermittlungsverfahren extrem schambehaftet sind und retraumatisieren können, und weil der lange Weg durch die Instanzen teuer und schwer ist. Alle 4,5 Minuten wurde 2021 eine Frau in Deutschland Opfer partnerschaftlicher Gewalt – alle 45 Minuten schwerer körperlicher Gewalt. Allein 3.527 Frauen waren im selben Jahr von Vergewaltigung, sexueller Nötigung und sexuellen Übergriffen betroffen – das ist eine Frau alle 2,5 Stunden. Weltweit wird sogar alle elf Minuten ein Mädchen oder eine Frau durch einen Partner oder Familienangehörigen getötet.

Leider zeigt sich jedoch auch vor Gericht: die Täter sitzen am längeren Hebel. Finden Frauen den Mut zur Anzeige, werden Verfahren oft eingestellt (zB wenn „Aussage gegen Aussage“ steht) oder es kommt zum Freispruch für den Täter, der in Deutschland oft keine große Sorge haben muss, für seine Tat rechtskräftig verurteilt zu werden. Nach einer Auswertung von Daten der Jahre 2014 bis 2016 erlebt von Hundert Frauen in Deutschland, die vergewaltigt werden, nur etwa eine einzige eine Verurteilung ihres Vergewaltigers, was daran liegt, dass 85 % der Frauen aus o.g. Gründen gar keine Anzeige machen, und von den 15 %, die übrig bleiben werden letztendlich nur 7,5 % der Täter verurteilt. Dass dies völlig indiskutabel ist und sich ändern muss, liegt auf der Hand.

Und um auch diese Frage zu beantworten – ja, es gibt natürlich auch die umgekehrte Gewalt gegen Männer, die in den allermeisten Fällen wiederum durch Männer verübt wird, die Opfer von vollendetem Mord und Totschlag sowie Körperverletzung mit Todesfolge durch Partnerschaftsgewalt sind jedoch zu fast 90 Prozent Frauen. (Quelle: BKA)

Besonders betroffene gesellschaftliche Schichten sind erstaunlicherweise nicht nur arme oder bildungsferne Frauen in sozialen Brennpunkten, die von ihrem Partner geschlagen, vergewaltigt, beschimpft oder gedemütigt werden, sondern – mit dem aktuell grössten Zuwachs – Akademikerinnen aus ebensolchen Haushalten, denn geschlechtsspezifische Gewalt durchdringt sämtliche Schichten und wird immer dort besonders stark, wo Frauen Freiheiten und Erfolge erzielen konnten – vielleicht sogar beruflich erfolgreicher sind als ihr Mann. Zu den Risikofaktoren gehören vor allem Trennungsabsichten oder eine bereits vollzogene Trennung der Beziehung, der vielleicht schon jahrelanger Missbrauch vorausging. Frauen bezahlen also für ihr Recht auf ein selbstbestimmtes Leben häufig mit Gewalt oder sogar dem Tod, Gewalt gegen Frauen ist Alltag, und wir alle kennen Opfer, wissen es vermutlich nur nicht. Darunter sind Mädchen genauso wie alte Frauen, alle sind irgendwann betroffen und folglich wird jede, die ihr fragt bestätigen, dass es für uns Alltag ist, sich für den nächtlichen Heimweg mit Pfefferspray abzusichern, den Schlüsselbund fest in der Faust zu halten, bei Dates Freundinnen zuvor den Treffpunkt mitzuteilen und sich stets genau zu überlegen, wo wir uns abends in der UBahn hinsetzen. Dass wir uns bei all dem nicht mal auf die Polizei verlassen können, zeigt kürzlich der Mord an Sarah Everard in London. Frauen leben ihr gesamtes Leben im Wissen, dass sie jederzeit Opfer männlicher Aggression werden können, lernen schon früh, dass sie immer vorsichtig sein müssen gegenüber Fremden – ein sehr anstrengendes Dasein, das Männer kaum nachvollziehen können – nur haben wir dies als Gesellschaft schon so internalisiert, dass es gar kein Gesprächsthema mehr ist, und bestärken munter weiter alte Rollenbilder, die Männer als Macher und Nehmende und dagegen Frauen als passiv und gebend definieren, und erziehen sogar oft unsere Kinder immer noch nach diesen obsoleten Normen.

Das ist die Welt, in der wir Frauen leben. Natürlich sind Morde nur die Spitzen der grösstenteils versteckt im Wasser dümpelnden Eisberge der Gewalt gegen Frauen, doch sie zeigen die Gesinnung der Täter: der Mann wähnt sich in dem Glauben, dass die Frau ihm gehört, er die totale Macht über sie hat, er mit ihr alles machen kann, was er will. Wenn nun also junge Frauen einen sechzigjährigen Weltstar und Multimillionär beschuldigen, sie gegen ihren Willen wie Frischfleisch für seine sexuellen Vorlieben benutzt zu haben, muss dies vor dem geschilderten gesellschaftlichen Hintergrund gesehen werden. Und vor den Tatsachen sexualisierter Gewalt. Damit werden wir uns in Teil II beschäftigen…

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Gewalt gegen Frauen – bundesweites Hilfetelefon

Soforthilfe bekommen Frauen über das bundesweite Hilfstelefon „Gewalt gegen Frauen“ unter der kostenfreien Nummer 08000 116 016 (24 Stunden am Tag besetzt). Auf der Seite des Hilfstelefon (https://www.hilfetelefon.de/) gibt es ein umfassendes Onlineangebot für Frauen. Die Seite kann man auch anonym besuchen. Beratung ist in 18 Sprachen möglich.   

Titelbild: © Dominik Heinkele, 2022

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  1. […] gesellschaftspolitischen Fakten zwar sehr schwer wiegen, aber zu wenig bekannt sind, habe ich in Teil I alltägliche Gewalt gegen Frauen und Teil II speziell Sexismus und sexualisierte Gewalt, denen […]

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