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„Ich ging spazieren mit zwei Freunden. Da sank die Sonne. Auf einmal ward der Himmel rot wie Blut, und ich fühlte einen Hauch von Wehmut. … Meine Freunde gingen weiter, und ich stand allein, bebend vor Angst. Mir war, als ginge ein mächtiges, unendliches Geschrei durch die Natur.“(Edvard Munch 1891 über ‚Der Schrei‘)
Habt ihr Musik schon einmal gesehen? Sie nicht nur gehört, sondern gleichzeitig auch Bilder davon vor eurem inneren Auge gehabt? Nicht nur echte Synaesthetiker, also Menschen, die beispielsweise Töne gleichzeitig als verschiedene Farben oder Geschmäcker wahrnehmen, kennen solche automatischen Verbindungen unterschiedlicher Sinnesreize; auch ohne diese spezielle Fähigkeit ordnen wir Eindrücke verschiedenen Empfindungen zu, erleben Farben als „kalt“ oder „warm“, Klänge als „grell“ oder „weich“, Laustärken als „bedrohlich“ oder „geheimnisvoll“…
Um einen umfassenden Eindruck von etwas zu bekommen, setzen wir also mehrere Sinne gleichzeitig ein, jeder Waldspaziergang wird so zum Bad in Sinnesreizen, es gibt zu sehen, riechen, hören und fühlen, und wir kommen nicht nur wegen der guten Luft erfrischt nach Hause, sondern weil auch unsere Seele berührt wurde. Kunst wirkt auf dieselbe Weise.
Wenn man an das Aufeinandertreffen von etablierter Kunst und hartem Rock denkt, fallen einem zum einen Kooperationen mit Symphonieorchestern und klassisch ausgebildeten Sängern und Sängerinnen ein, zum anderen natürlich die Cover-Artworks, die sich manchmal an Vorlagen alter Meister orientieren, sich mittlerweile jedoch zu einer eigenen Kunstform mit eigenen Stars an Coverdesignern entwickelt haben, und in Bestenlisten und jährlichen Sammelbänden zusammengetragen werden. Auch Musikvideos haben heute oft einen künstlerischen Anspruch, der sich je nach der Ästhetik des Genres unterschiedlich ausdrückt, und im Sinne des Gesamtkunstwerkes sind Musiker oft auch selbst bildende Künstler, die neben ihren Bands noch andere Kanäle des kreativen Ausdrucks nutzen.
Black Metal und bildende Kunst
Dass Metalmusiker visuelle Kunstwerke vertonen ist dagegen neu, ganz generell galt die Musik seit der Antike als „reinste“ aller Künste und die Malerei stand daher lange in einem Konkurrenzverhältnis zu ihr. Ein Problem, das jede Vertonung lösen muss, ist zudem die in einem Bild oder einer Plastik nicht vorhandene, aber für die Musik grundlegende zeitliche Dimension, sie sind statisch, unveränderlich, und müssen erst in einen Fluss, einen Ablauf gebracht werden. In diesem Zusammenhang ist besonders interessant, dass gerade im Black Metal, einem Genre, das quasi auf Repetition fusst, viel mit bildender Kunst kooperiert wird. Eines der am häufigsten vertonten Bilder überhaupt, Arnold Böcklins ‚Die Toteninsel’, wurde 2018 unter anderem von FARSOT und COLDWORLD eindringlich interpretiert (zum Review geht’s hier), und im Rahmen einer Kampagne zur Eröffnung des spektakulären neuen Munch Museums in Oslos Hafen wurde ‚Dødskamp’, ein Gemälde des berühmtesten norwegischen Malers Edvard Munch von 1349 in einem Blackmetalsong gespiegelt (mehr dazu hier).
1349s Drummer Frost, SATYRICONs eine Hälfte, hat also bereits Erfahrung in der Zusammenarbeit mit dem Munchmuseet, es stand jedoch damals schon fest, dass eine der Ausstellungen zur Neueröffnung unter dem Banner SATYRICON & MUNCH stattfinden wird. Bandkopf Sigurd Wongraven hatte sich bereits 2017 für ihr letztes Album ‚Deep Calleth Upon Deep’ für ein Munch-Cover, ‚The Kiss Of Death‘ (1899), entschieden und spricht in diesem Video darüber, was ihn an Munchs Kunst so begeistert:
Edvard Munch, Maler der Seele
Geboren 1863 in bescheidene, aber kunstaffine Verhältnisse, gilt Edvard Munch heute als herausragender Wegbereiter der Moderne und als Vorreiter und früher Katalysator für die Durchsetzung des lange stark umstrittenen Expressionismus, der sich gegen Naturalismus und auf reine Ästhetik, nur auf das Äussere fokussierte Malerei stellte. Expressionisten dagegen drücken ihre Erlebnisse, ihre subjektiven Emotionen aus und gehen dabei frei mit Form, Farbe und Perspektive um, erproben neue Malweisen, kratzen Farbe mehrfach ab, um nochmals viele neue Schichten aufzutragen, deformieren auf geradezu aggressive, ungezähmte Weise Personen und Objekte, arbeiten plakativ, konstruiert und destruktiv – weitere Parallelen zum Black Metal.
„Ich male nicht nach der Natur – ich nehme meine Motive aus ihr oder schöpfe aus ihrer Fülle. Ich male nicht das, was ich sehe, sondern das was ich sah. Der Fotoapparat kann nicht mit dem Pinsel und der Palette konkurrieren – solange er nicht im Himmel und in der Hölle verwendet werden kann.“
Munch musste bereits als Kind Krankheit und Tod seiner engsten Angehörigen verkraften, und stellte früh seine eigenen emotionalen Erfahrungen in den Mittelpunkt seiner Arbeit. Die elementaren existenziellen Themen des Menschen sind sein Fokus: von Liebe, Eifersucht, Melancholie, Angst bis zu Einsamkeit, Krankheit, Trauer und Tod führte er als Erster die subjektive Psychologie in die Malerei ein, beruhend auf eigenen autobiographischen Erlebnissen wie dem frühen Tuberkulose-Tod von Mutter und Schwester, und den psychischen Erkrankungen seiner Familie, ihn selbst wohl eingeschlossen. Munch malte ab einem bestimmten Punkt biographisch, er „wollte sein Leben malen“. Wichtige Motive kehren immer wieder neu in unterschiedlichen Versionen zurück, wie ‚Der Schrei‘, ‚Madonna‘, ‚Vampir‘, ‚Melancholie‘, ‚Der Tod im Krankenzimmer‘ oder ‚Der Tanz des Lebens‘, er ist damit auch Vorreiter der seriellen Kunst.
Seine Arbeit war ein Schock für das dekadent-konservative Bürgertum des beginnenden 20. Jahrhunderts, die Unfertigkeit, Unvollkommenheit und seine ganz eigene, neue, plakative und symbolische Formensprache, mit der er psychologische Zustände abzubilden schafft, kommt zu früh für die Gesellschaft, Munch sagt über sein Schlüsselwerk ‚Das kranke Kind‘ (1986): „…Die meisten meiner späteren Werke verdanken diesem Bild ihre Entstehung. Kein Gemälde hat in Norwegen so viel Ärgernis erregt wie dieses. Als ich am Eröffnungstag den Saal betrat, in dem es hing, standen die Menschen dichtgedrängt vor dem Bild – man hörte Geschrei und Gelächter.“. Seine erste Ausstellung in Deutschland 1892 wird als „anarchistische Provokation“ wahrgenommen und endet mit einem handfesten Skandal, in dessen Zusammenhang zum ersten Mal der Begriff „Entartete Kunst“ auftaucht.
„Ich möchte meine Krankheit nicht ablehnen, denn meine Kunst schuldet ihr viel.“‘
„Malen ist für mich eine Krankheit, ein Rausch. Eine Krankheit, die ich nicht loswerden will, ein Rausch, den ich brauche.“
Edvard Munch war sehr produktiv und nutzte neben der Malerei auch Graphik, Holzschnitt, Lithographie, Photographie und Film als künstlerische Ausdruckstechniken, mit denen er innere und äussere Wirklichkeit darzustellen versuchte. Farben stehen dabei wie andere immer wiederkehrende Symbole für unterschiedliche Gefühle – ganz so, wie es auch in der Musik gehandhabt wird. Er starb 1944, längst weltweit anerkannt, und vermachte seine umfangreiche Sammlung, mehr als 26.000 Werke, seiner Heimatstadt Oslo, die sie im weltgrössten Museum, das einem einzigen Künstler gewidmet ist, der Öffentlichkeit präsentiert. Seit Oktober 2021 hat das Munchmuseet sein spektkuläres neues Gebäude bezogen, und beschreitet nun mit einer der Eröffnungsausstellungen ganz neue Wege:
SATYRICON & MUNCH – A Heavy Meeting.
Einzigartige und einmalige Kooperation
In einer seiner grössten Ausstellungshallen wird ab dem 29. April 2022 vier Monate lang besonderen Munch-Werken die speziell für diese Gelegenheit komponierte Musik SATYRICONs gegenübergestellt – in der Weise, dass sie während des Besuches im Raum erklingt. Die hierfür ausgesuchten Werke von Munch befassen sich mit existenziellen Themen und wurden danach ausgewählt, dass sie Rhythmen und Wellen erzeugen, die mit der Musik korrespondieren, es soll eine für die Besucher erfahrbare Symbiose zwischen visuellem und auditivem Eindruck entstehen, zwischen vielleicht schon bekannten Bildern und ganz neuer Musik, Expressionismus und Black Metal.
Dazu hat Multiinstrumentalist Satyr / Sigurd Wongraven seit Herbst 2018 auf die Bilder zugeschnittene Stücke komponiert und mit Ausnahmedrummer Frost / Kjetil-Vidar Haraldstad zusammen ausgearbeitet und eingespielt, für ein paar Tage sogar direkt in Edvard Munchs Studio. So wie der Maler sein Innenleben in seinen Werken ausgedrückt hat, versuchen SATYRICON die Gefühle, die diese Bilder in ihnen hinterlassen haben in Musik auszudrücken. Bisher sind nur Tonschnipsel bekannt, doch es wird symphonisch und experimentell werden, wie man es aus den vorangegangenen Kooperationen wie mit Anja Garbarek, den Trondheim Soloists und dem Opernchor der Norwegischen Oper bereits kennt. Die Musik musste in vielen Tonproben vor Ort auf den Ausstellungsraum angepasst werden, so dass ein umfassender Eindruck entstehen kann, der sowohl Munch als auch SATYRICON gerecht wird.
Auch ohne die Ausstellung schon selbst erlebt zu haben ist davon auszugehen, dass sie eine monumentale und doch intime Erfahrung werden wird – für Metalfans wie Kunstinteressierte, Synaesthetiker oder Normalsterbliche. Hier treffen Künstler aus völlig unterschiedlichen Zeiten und Welten aufeinander, die als Vorreiter entgegen aller äusseren Einflüsse und Kritik aus den eigenen Reihen ihren Weg gegangen sind: offen, neugierig und sich ständig weiter entwickelnd. Die Genregrenzen eingerissen haben und Horizonte erweitert. Für mich ist diese extrem spannende Kooperation schon jetzt ein Highlight des Jahres.
Das Album ‚Satyricon & Munch’ wird kurz nach der Ausstellungseröffnung erscheinen. Ebenso hat der Photograph Morten Andersen das Projekt seit Beginn begleitet, sein Photobuch wird parallel zur Ausstellung zu erhalten sein.
Mehr Infos zur Sonderausstellung im Munchmuseet, Edvard Munchs plass 1, 0194 Oslo, findet ihr hier.
SATYRICON weblinks:
https://satyricon.bandcamp.com/
https://www.facebook.com/SatyriconOfficial
https://www.instagram.com/satyriconofficial/
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[…] Besuch war zwar aus Zeitgründen gut vorbereitet, wie man in der Ausstellungs-Ankündigung hier nachlesen kann, doch habe ich es vermieden, im Vorhinein zuviel über das Erlebnis dieser […]