BELL WITCH & FUOCO FATUO live im P8² Karlsruhe

Funeral Doom als Wellnessbehandlung für Körper, Geist & Seele

Knapp zu spät, die erste Band hat gerade begonnen, komme ich ins P8² und wundere mich, dass von den Leuten, die neben dem Mischpult stehen, bis vor zur Bühne alles leer ist. Ich finde das FUOCO FATUO gegenüber unfair und gleichzeitig sehr verwunderlich, dass offenbar bisher kaum jemand da ist beziehungsweise weiter nach vorne geht. Als ich jedoch schliesslich mit flüssiger Erfrischung ausgerüstet Richtung Bühne strebe, erkenne ich meine Fehleinschätzung, denn es bietet sich mir ein äusserst ungewohnter, ja für Doom Metal geradezu skurriler Anblick: der Zuschauerraum ist bestuhlt, und das Konzert keineswegs schwach besucht, sondern die Meisten sitzen eben. Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet, doch wieviel Sinn dies gerade für den Hauptact BELL WITCH macht, werden wir im Laufe des Abends noch lernen…

Azzurro? Eher Nero…

Auch wenn böse Zungen behaupten, Doom, gerade auch seine Funeral-Schiene, sei was für alte Leute, sind die Italiener FUOCO FATUO mit ihrer Death Doom-Schlagseite doch junge, quicklebendige Kerlchen, die pausenlos und rhythmisch ihre Haarpracht um sich werfen, wenngleich sie mit ihrem jüngsten Album ‚Obsidian Katabasis‘ aus 2021 tatsächlich den letzten Schritt hin zum lupenreinen Funeral Doom getan haben. Die Platte umfasst zwar drei Viertelstünder, stellt mit den Interludien dazwischen jedoch eine Einheit dar und wird auch als solche aufgeführt. Eine meist bis auf das strahlend illuminierte Bandlogo tiefdunkle Bühne, geschmückt durch Steinbockschädel, bildet die ideale Umgebung für ebensolche Musik, die in schrecklichen abyssalen Tiefen wabert, das dort regierende formlose Grauen abzubilden versucht und es doch nur schafft, eine rein atmosphärische Beschreibung des Unsagbaren abzuliefern. Das jedoch tut das Quartett aus Varese meisterhaft, indem es den Schwerpunkt auf tonnenschweres, doch gleichzeitig beckenlastiges Drumming in Kombination mit einem erbarmungslosen Bass sowie unendlich viele untief flirrende, dissonante, auf- wie gleichzeitig absteigende ultratiefe Gitarrenlayers legt, die die Zuhörenden in einen langsam drehenden, jedoch knochenzermahlenden Vortex saugt, in dem sich das Publikum langsam nickend wohnlich einrichtet.

Sänger Milos sparsame, dadurch nur wirkungsvollere Growls, Schreie und Rufe unterstreichen das Endzeitliche und gleichzeitig Lovecraftianische des FUOCO FATUO-Sounds. Dieser vertonte, sich gegen Melodien und Harmonien stemmende Nihilismus, das Noisige, das doch immer wieder nach den Sternen greift, erinnert zwangsläufig an die aktuell in Dauerschleife laufende neue BLUT AUS NORD, aber genauso an die alte Garde des Funeral Doom wie ESOTERIC und frühe AHAB. Gerade gegen Ende ihres Auftritts hin wird es besonders erhebend, transzendental und rituell, das Tempo zieht gelegentlich an und die Dramatik nimmt noch eine Schippe zu, auch experimentelle, psychedelische Klänge mischen sich unter die tonnenschweren Riffs, und mit einem finalen Aufbäumen endet dieser Höllenritt mit dem monumentalen ‚Psychoactive Katabasis‚ und unendlich nachhallenden Gitarren im Nichts, aus dem er kam.
FUOCO FATUO haben ihren Profound Lore-Labelkollegen aus Seattle heute nicht nur den Boden bereitet, sondern ein Signal gesetzt, und bekommen auch den entsprechend gebührenden Applaus. Hoffentlich zeigt sich die Begeisterung des Publikums auch am Merchstand…

Hexerei? Nein, Multitasking galore!

Nach der Pause haben sich die Stühle noch enger gefüllt, denn dass BELL WITCH ihre ohne grosses Aufsehen im Frühjahr erschienene neue Platte ‚Future’s Shadow Part 1: The Clandestine Gate‚ nur am Stück aufführen können liegt ja bereits darin begründet, dass es sich dabei wie schon beim grandiosen Vorgänger ‚Mirror Reaper‚ um einen 83 Minuten langen Monolithen handelt, der jedoch so vielfarbig schimmert wie es nur möglich ist in diesem Genre… dessen ohnehin elastische Grenzen das Duo aus dem pazifischen Nordweseten der USA gekonnt weiter dehnt, Verzögerung ist das Zauberwort, Unendlichkeit die Spielwiese. Meinen zweiten Aha-Moment habe ich gleich zu Beginn des Sets, denn ich hätte nie damit gerechnet, dass der Kirchenorgelpart live gespielt werden würde. Doch Jesse Shreibman hat irgendwie den Platz auf dem Boden zwischen seinen Fußmaschinen gefunden, um ein Roland-MIDI-Fußpedal unterzubringen, auf dem er in Socken sämtliche feierlichen Orgelteile zu Beginn und Ende des Stücks spielen wird. Zuerst als Solo, später wohlgemerkt auch in gleichzeitiger Kombination mit Schlagzeug, Synthesizer und diverser Perkussion, von denen auch der beeindruckende Gong immer wieder eine tragende Rolle spielt. Ab dem Moment, wo er wie ein Gummimensch mit dem Oberkörper nach hinten zum Gong gedreht synchron mit den Füssen die Orgelpedale bearbeitet, schalte ich mein Gehirn für den Rest des Auftritts aus, denn das kann ja alles nicht wahr sein… Multitasking galore.

Denn ähnlich Abgefahrenes passiert ja gleichzeitig auch auf der linken Bühnenseite, wo Dylan Desmond seinem siebensaitigen Bass auf sehr spezielle und reduzierte Art und Weise Töne entlockt, die nicht von dieser Welt sind, werden sie doch durch mehrere Amps und multiple analoge und virtuelle Kanäle geschickt, auseinandergenommen, verbogen, zerstückelt, verzerrt, neu vermischt und wieder hörbar gemacht. Und fühlbar, denn die extrem tiefen Frequenzen kommen vor allem als langsame, aber sehr starke Vibrationen beim Publikum an, und die Bestuhlung erweist sich somit als Massagestühle für die inneren Organe, die prickelnd in Schwingungen versetzt werden, während das Innenohr versucht, soviel davon wie möglich hörbar zu machen. Funeral Doom als ganzheitliche Wellnessbehandlung, bei der der Körper entspannnt während Zeit und Raum in den Hintergrund treten, und Seele und Geist die Möglichkeit haben, in andere Sphären zu reisen…

Dabei zupft der Bassist nur selten kraftvoll oder holt gar das Plektrum aus der Hosentasche, um ein ewig lang und unendlich tief schwingendes Riff anzuschlagen, dass diversen Effekten alle Ehren macht, meist nutzt er das extrem breite Griffbrett des Siebensaiters, um durch den Wechsel von Druck und Loslassen Töne zu erzeugen; es wirkt oft mehr wie Zitherspielen, wie er mit den dicken Saiten umgeht. Die ungeheure Vehemenz, mit der Shreibman in einzelnen, wohldosierten Schlägen auf seine Felle eindrischt, findet in der Verzerrung und klanglichen Auffächerung von Desmonds sparsamem Bassspiel ihr Spiegelbild. Es ist ein hochsynchroner Dialog, den die beiden Akteure nur durch Blickkontakt miteinander führen, der gleichsam Spannungsfäden zwischen den Beiden spinnt, die den Raum der Bühne unsichtbar durchkreuzen. Sie benötigen die paar Meter räumlichen Abstand voneinander, um jeder in seinem Reich zu regieren, sind jedoch stets unmittelbar miteinander verbunden.

Da die Kamera kaputt ist, gibts diesmal kurze Videos (mehr davon hier: https://www.youtube.com/@metallosophy) statt vieler handyunscharfer Bilder… auf denen man gut sehen kann, wie versunken die beiden Protagonisten in ihr Tun sind, ohne den jeweils Anderen aus dem Blick zu verlieren.

Einen Eindruck der rituellen Wirkung der extremen Kontraste, mit denen BELL WITCH spielt, gibt der folgende Clip mit Desmonds ätherischem, gregorianischem Gesang zu den enorm wuchtigen und präzisen Schlägen Shreibmans:

Desmond singt clean, manchmal auch eher sprechend, aber am eindrucksvollsten ätherisch und liturgisch wie ein Mönch, Shreibman dagegen übernimmt die Growls. Während des Gigs werden auf die grosse Leinwand hinter den Beiden Schwarzweiss-Videos projiziert, wie es bereits bei AMENRA hier auf der grossen Bühne des P8² sehr wirkungsvoll geschah, was den Eindruck einer mehr als eine Stunde dauernden Messe noch verstärkt, es sind fliessende, mehrschichtige und auch wieder gespiegelte Collagen aus Naturbildern, ruhigen Kerzenflammen und einer maskenbewehrten Figur, die die Zeit als Sand durch ihre Finger rinnen lässt. Der visuelle Eindruck kommt zum Hören und Fühlen noch hinzu und verstärkt die meditative Stimmung von ‚The Clandestine Gate‚ nochmals, und als die letzten Minuten die schwermütige Kirchenorgel des Beginns wiederaufnehmen, schliesst sich ein weit gezogener Kreis wieder. Ein deutlich über eine Stunde dauernder einziger Song, der Tiefen, Höhen und Weiten des inneren und äusseren Universums auslotet und dabei einen scheinbar unendlichen Klangkörper aufbaut, hat uns völlig in seinen Bann gezogen und in eine andere Welt jenseits des Alltags entführt; was diese Leistung von den Musikern an Konzentration und Kraft abverlangt ist kaum nachzuvollziehen. Die Zuhörenden brauchen sehr lang, bis sie wieder in der Realität ankommen, Applaus kommt erst allmählich auf, zuvor muss erst einmal tief durchgeatmet und sich wieder geerdet, im hier und jetzt verankert werden.

Das also ist ‚Future’s Shadow – Part 1‘ live, der Teil, der Nacht und Sonnenaufgang umfasst; was da an weiteren Monolithen in den beiden folgenden Platten des Triptychs, Mittag und Sonnenuntergang, auf uns zukommen wird, ist nach diesem Eindruck noch weniger vorstellbar als zuvor. Ein vertontes Paradox zwischen der Unendlichkeit und dem Loop, in dem alles stattfindet – larger, and slower, than life wird es auf jeden Fall werden… und das Roadburn Festival soll schon mal an jedem Abend einen Slot freihalten, damit das Ganze irgendwann hintereinander aufgeführt werden kann. Wer das verpasst, ist dann selbst schuld. Und wer heute hier war, wird davon noch ewig zehren…

Bandinfos:

BELL WITCH ist ein Doom Metal Duo aus Seattle, USA, bestehend aus Dylan Desmond und Jesse Shreibman.

https://www.bellwitchdoom.net/
https://bellwitch.bandcamp.com/
https://www.facebook.com/BellWitchDoom/

FUOCO FATUO spielen Funereal Doom Metal und kommen aus Varese, Italien.
https://fuocofatuo.bandcamp.com/
https://www.facebook.com/FUOCO666FATUO/

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