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Premiere: Sundance Film Festival 2022
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Regie: Rita Baghdadi
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Produzentinnen: Rita Baghdadi & Camilla Hall, Koproduzentin: Tatiana el Dahdah
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Produktion: Animal Pictures / Lady & Bird / Endless Eye
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Verleih: Oscilloscope Laboratories
Eine charakterstarke und bewegende Dokumentation über SLAVE TO SIRENS, die erste rein weibliche Metalband des Nahen Ostens |
Am emotionalen Tiefpunkt des Films sagt Bassem Deaïbess, Aktivist und Frontmann von Beiruts Thrashern BLAAKYUM und guter Freund von Shery Bechara, Leadgitarristin und Hauptsongwriterin von SLAVE TO SIRENS, Libanons erster und einziger all-female Thrash Band, einen Satz, der sowohl Stärke wie auch Kernproblem ihrer Band mit einfachen Worten umschreibt: “Metal is about 100% pure sacrifice. You know the problem when you’re an all-female band? You don’t have reserves. Male bands, when they fight with a guitarist, they just get another.”, sogar im Libanon, einem Land mit zwar kleiner, aber dafür umso engagierterer Metalszene, klappt das. Die fünf SIRENS jedoch sind komplett aufeinander angewiesen, umso mehr, wenn man ihre ehrgeizigen Ziele, einmal von ihrer Musik leben zu können, ja Rockstars zu werden, in Betracht zieht. Rita Baghdadis tiefgehender Dokumentarfilm über die inneren und äusseren Kämpfe der fünf jungen Frauen an Wendepunkten in ihrem Leben als Privatpersonen, Band und Nation nimmt uns mit in die Realität des Nahen Ostens, wie wir sie sonst nicht zu sehen bekommen…
Es sind jedoch nicht die naiven Träume selbstverliebter Girls, die dieser so berührende wie mitreissende Film beleuchtet, sondern die einzig realistische Chance für die dafür alles opfernden Frauen, einem politisch zerrissenen, von Korruption und Unruhen erschütterten und wirtschaftlich zerfallenden Land zu entkommen, das ihnen – allesamt mit Universitätsausbildung! – keine echte berufliche und persönliche Perspektive bieten kann, das verbreitete Frauenbild sieht Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung und aus der üblichen Ehefrau- und Mutterrolle fallen nicht vor. Umso mehr konzentrieren sie sich auf ihre Musik und versuchen trotz aller Widerstände und ohne jegliche Unterstützung von aussen so professionell wie nur möglich zu arbeiten. Metal spielt in der Öffentlichkeit des Nahen Ostens keine wirkliche Rolle (ausser wenn es wieder einmal Festnahmen wegen angeblichem Satanismus gibt… ), extremer Metal findet im Libanon nur im absoluten Untergrund statt und ist quasi von der weltweiten, meist genauso konservativen Szene abgeschnitten, die erst ganz langsam beginnt, sich überhaupt für die Masse an Bands ausserhalb der westlichen Welt zu interessieren. Es gibt im Libanon nicht mal Labels oder Aufnahmestudios, die auf etwas anderes als Pop oder orientalische und arabische Musik eingerichtet sind, nur innerhalb der sehr aktiven Szene hilft man sich untereinander aus – aber diese besteht, in einem konservativ und religiös beherrschten Land sowieso, fast nur aus Männern. Bis heute wirkt zudem die Kriminalisierung von Metalfans nach, denen in den 90er Jahren Satanismus, Katzenopfer und das Abhalten von Orgien vorgeworfen wurde, was zahlreiche Razzien und Inhaftierungen nach sich zog – und die besten Venues bis heute davon abhält, Metalbands zu buchen.
Against all odds
Die jungen Frauen sind daher in vielerlei Hinsicht auf sich selbst gestellt, zur falschen Zeit am falschen Ort – und im falschen Geschlecht, wenn man so will, und so drückt es auch Sherys Vater aus: „I know you want more in life … but if you were in a pop band, you would have been much more famous. … Your style is not supported here. Here in the Middle East, you are the 1% that likes thrash metal. These are your disadvantages. You did not get the opportunity to shine more.”
Sie fallen auf mit ihren schwarzen Klamotten, Bandshirts, Leder, Tattoos und Piercings, sind Aussenseiterinnen, was sie jedoch nur noch mehr zusammenschweisst. Die fünf Musikerinnen leben in einer Gesellschaft, die sie aus vielerlei Gründen diskriminiert – wegen ihrem unkonventionellen Stil und Äusseren (Als Shery an ihnen vorbeiläuft, bekreuzigen sich zwei Joggerinnen und rufen die Muttergottes zu Hilfe…), weil sie Frauen in einer Männerdomäne sind und weil sie queer sind, in einer extrem konservativen und religiös geprägten Gesellschaft, in der die die Meinungsfreiheit nach all den Jahren Bürgerkrieg labil geworden ist. Schon allein die künstlerische Verarbeitung von LGBTQ+ Themen, geschweige denn entsprechender Aktivismus, werden als Blasphemie angesehenund mit Todesdrohungen beantwortet, wie es der mittlerweile aufgelösten libanesischen Indieband MASHROU’ LEILA passiert ist, die lange Jahre gegen Missstände im Nahen Osten anspielte und zu einer Stimme der arabischen LGBTQ+-Szene wurde. Auch SLAVE TO SIRENS werden Auftritte abgesagt, sobald Venues mitbekommen, dass sie Metal spielen. ‚SIRENS‘ ist somit ein Paradebeispiel für die Thematisierung von intersektionaler Diskriminierung von Frauen, bei der sich Sexismus, Homophobie, Chauvinismus und generelles Misstrauen gegen Andersdenkende gegenseitig verstärken, und ihnen somit die Chance nehmen, ihre Interessen ohne gesellschaftliche Repressionen auszuleben.
„My parents always tell me that theres no future here. It’s a dog eat dog world. I feel misunderstood a lot. Without music, I dont know how to express how I feel.„
Shery Bechara
Auch die Musikerinnen engagieren sich gegen die korrupte Regierung und gesellschaftliche Missstände, der Film zeigt die aktuelle politische Situation, in der Demonstrationen, Wasserwerfer und verstärkte Militär- und Polizeipräsenz im Strassenbild alltäglich sind. So ist auch die Band entstanden, die beiden Mittzwanzigerinnen Lilas und Shery haben sich mitten in einem Aufstand kennengelernt und gegenseitig als Metalfans erkannt, gleich mal gefragt was die andere so an Bands hört und begonnen, gemeinsam Musik zu machen, zu jammen und Songs zu schreiben (Metal as fuck, oder? So eine Entstehungsgeschichte können andere Bands nicht vorweisen…). Sie ergänzen sich perfekt, die stille, geheimnisvolle Shery ist melodischere von Beiden, die dominante Lilas mehr für die Riffs und die technische Seite zuständig, beide inspirieren sich gegenseitig stark. Sie finden weitere ebenso talentierte Bandmitglieder, die Sängerin Maya Khairallah, die hier zum ersten Mal aus tiefstem Herzuen growlen kann, Alma Doumani am Bass sowie Tatyana Boughaba am Schlagzeug, zusammen nehmen sie ihre erste EP ‚Terminal Leeches’ auf – mit sehr technischem, anspruchsvollen Thrash in bester politischer Tradition des Genres. Alle haben Erfahrung in Bands mit Männern, doch erst die Frauenband SLAVE TO SIRENS, das ist ihr Ding, hier können sie endlich die sein, die sie wirklich sind, ausdrücken, was sie bewegt und auch ihre sexuellen Orientierungen, die von der libanesischen Gesellschaft ebenfalls diskriminiert werden, ausleben – zumindest soweit, dass es das Bandgefüge nicht komplett zerrüttet… als die Dokumentarfilmemacherin Rita Baghdadi mit ihnen in Kontakt kommt, stehen vor allem für die beiden Gitarristinnen Entscheidungen an, und wie sie damit als Band umgehen, davon handelt dieser sehr geschickt geschnittene Film, der oft vergessen lässt, dass er kein Drehbuch verfolgt, so lebensnah entwickelt er sich und so viel Persönliches, auch Kontroverses, ja Intimes geben die Protagonistinnen preis – und dies nicht nur untereinander, sondern immerhin der ganzen Welt.
Dazu gehört extrem grosses Vertrauen in das Filmteam um Rita Baghdadi. Die Kamerafrau, Regisseurin und Produzentin ist für ihre intimen, charakterstarken und sozial engagierten Dokumentationen bekannt, hat selbst einen amerikanisch-marokkanischen Familienhintergrund und sich schon lange darüber geärgert, wie AraberInnen in westlichen Filmproduktionen dämonisiert und herabgesetzt werden und die gesamte süd/östliche Mittelmeerregion als Feindesland angesehen wird. Diesem Klischee wollte sie einen Film entgegenstellen, in dem sich junge Frauen aus dem Nahen Osten in ihrer Lebenswirklichkeit, ihren Hoffnungen und Träumen wiederfinden, wie es für sie selbst in ihrer von 9/11 überschatteten Jugend so wichtig gewesen wäre. Als sie Lilas kennenlernt und sich mit ihr anfreundet, eröffnete sich ihr die Möglichkeit, dieses Ziel zu verwirklichen:
„A film where Arab women could be the stars of their own story, and not the victims in someone else’s. Where Arab women could scream, curse, thrash, and talk openly about sexuality without being sexualized.”
Rita Baghdadi
Dafür hat sie SLAVE TO SIRENS mehrere Jahre mit ihrem reinen Frauenteam bestehend aus Produzentin Camilla Hall sowie Co- Produzentin Tatiana el Dahdah als Tontechnikerin begleitet, der Fokus lag dabei auf Bandleaderin Lilas Mayassi und ihrer komplizierten Beziehung zu Leadgitarristin Shery Bechara sowie zu ihrer Mutter, mit der und ihrem Bruder sie beengt zusammenlebt, in einem Zimmer mit lila Wänden und darauf gemalten Flying V’s. Lilas persönliche Entwicklung inner- und ausserhalb der Band, deren Mitglieder alle miteinander befreundet sind und eine strikte Probendisziplin in ihrem eigenen Proberaum durchziehen, ist der rote Faden, an dem sich die Ereignisse, seien sie privat, bandbezogen oder politisch, aufreihen – hängt doch alles miteinander zusammen. Baghdadi gelingt es mit ihrer distanziert-beobachtenden und völlig wertungsfreien Konzentration auf das Leben ihrer Hauptfigur, die sich aus den gesellschaftlichen Dogmen und Limitierungen, aber auch ihrem eigenen Wertesystem befreien muss, um sich selbst und damit auch persönliche Zufriedenheit zu finden, eine Projektionsfläche für unzählige junge Frauen zu erschaffen, die genau wie sie damit kämpfen, mehr als das zu wollen, was ihre Umgebung für sie vorgesehen hat.
„Anytime a woman wants to be anything other than what society wants, it is always an issue”
Lilas Mayassi
Wir erleben sie bei Proben, die enden sobald der Strom mal wieder ausfällt, bei improvisierten Foto- und Videoshoots, daheim beim zusammen Chillen, Üben und mit Freunden und Familien, bei Lilas Arbeit als Musiklehrerin und auf Demonstrationen. Als sie via Earache Records das Angebot erhalten, 2019 beim Glastonbury Festival zu spielen, und alle konzentrieren sich ab sofort nur noch auf diesen ersten Auslandsauftritt, SLAVE TO SIRENS bereiten sich mit Hilfe von Freunden darauf vor, analysieren ihr Stageacting, üben sogar noch am Vorabend im Zelt – um am nächsten Tag auf einer kleinen Nebenbühne einer Handvoll verkaterter Leute gegenüberzustehen. Während der Rest der Band es sportlich nimmt, ist Bandleaderin Lilas, die vom grossen Durchbruch geträumt hat, extrem enttäuscht, wieder daheim in Beirut eskaliert dann die angespannte Situation zwischen ihr und Sheri und die Zukunft der Band steht auf dem Spiel…
Als es am 4. August 2020 zur unkontrollierten Explosion von fast dreitausend Tonnen Ammoniumnitrat im Hafen von Beirut kommt, die mehr als dreihundert Menschenleben kostete, viele Tausende Verletzte hinterliess, um die 300.000 Menschen für lange Zeit wohnungslos machte und einen erneuten wirtschaftlichen Niedergang auslöste, traumatisiert diese unfassbare Katastrophe das ganze Land zeitlebens. Deren unbeschreiblich grauenhafte Bilder von Leid und Zerstörung werden von Baghdadi gleichzeitig sensibel wie auch drastisch filmisch umgesetzt, in Kombination mit surreal anmutenden Liveszenen der Band erreichen sie den Kern dessen, was Metal ausmacht – das Schreckliche, kaum Benennbare so zu vertonen, dass es aushaltbar wird. Diese Ereignisse und die daraus folgende Unsicherheit bewirken eine Katharsis und ein Umdenken bei Lilas, und ermöglichen so schliesslich doch wieder einen Neuanfang für die Band.
„We live in this cycle of fear, and our band is the only outlet for us to be who we want to be, without any limits.“
Lilas Mayassi
‚SIRENS’ ist ein unglaublich mutiger, feministischer Coming of age-Film, der intimste Einblicke in Er-Leben, Gedanken und Gefühle der Protagonistinnen gewährt, die ihrer Realität zwischen ständigen Revolten, Krieg, Arbeitslosigkeit und gesellschaftlicher Repression ihre geballte Kreativität, harte Arbeit, Schwesternschaft und hochfliegende Träume entgegensetzen, und sich so mit ihrer Musik selbst die notwendigen Perspektiven für eine erfüllte Zukunft schaffen. Als Shery und Lilas schliesslich im Bacchustempel von Baalbek beim im TV übertragenen grossen Benefizkonzert für die Opfer der Explosionskatastrophe mitwirken, wird deutlich, dass sie aus dem Schatten der Unsichtbarkeit ins Rampenlicht getreten sind.
Rita Baghdadi hat es geschafft, mit einem unprätentiösen, technisch herausragenden Film der leisen Töne (und einem perfekt passenden Score von Para One!), bei dem in Nebensätzen und vor allem in Szenen ganz ohne Text am meisten passiert, einen eindrucksvollen und nachhallenden Einblick in die Realität junger arabischer Frauen zu geben, und dies weitab von den Klischees des Euro- bzw. US-zentrischen Mainstreamkinos. Man merkt ‚SIRENS’ an, wie stark alle Beteiligten durch die gemeinsame Arbeit gewachsen sind, und das ist sicherlich die schönste Belohnung für so viel Offenheit und Verletzlichkeit.
Es bleibt nur, jedem zu raten, dieses kleine Juwel anzusehen. Filmfestivals (wie aktuell das Münchner Dok.Fest, link zum Streamen HIER) geben immer wieder die Möglichkeit dazu, folgt daher einfach den unten angegebenen social media-Profilen – und lasst euch umhauen von der Power all der daran beteiligten Frauen!
Filminfos:
https://www.sirensdocumentary.com/
sirens.oscilloscope.net
https://www.facebook.com/Sirensdocumentary
https://www.instagram.com/sirensdocumentary/
Bandinfo:
www.facebook.com/slavetosirens
https://www.instagram.com/slavetosirensband/
https://www.youtube.com/channel/UC9EMD9pTtjJ4P1p7b2V4j2w
„Since the day my grandparents were born, this country is fucked up. War, instability, unemployment. All this pain, all this rage, there’s something were running away from… but I don’t wanna live in fear!„
Lilas Mayassi