Charly Hübner über MOTÖRHEAD oder Warum ich James Last dankbar sein sollte

  • Veröffentlichung: 07.10.2021

  • Verlag: Kiepenheuer & Witsch

  • Versionen: Buch/eBook, Hörbuch/AudioCD

Eine Schelmengeschichte zur Metal-Sozialisation im ausklingenden Sozialismus

Motörhead ist für mich gleichzeitig Rettungsanker und Rakete im Arsch, und ein Abstandhalter zwischen der Welt und mir

Ich liebe Überraschungen, vor allem solche, die wirklich komplett unerwartete Einsichten in die wilden Wege des Lebens bringen. Bei Charly Hübner dachte ich bisher an ‚Polizeiruf 110‘, diverse Kino- und TV-Filme (wie zuletzt ‚Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush‘), und weiss auch noch irgendwie, dass er am Deutschen Schauspielhaus Hamburg tätig ist, hatte jedoch bislang keinerlei Ahnung von unserer gemeinsamen grossen Liebe zu drei Haudegen aus England, zusammen MOTÖRHEAD genannt.

In seinem ersten Buch, erschienen im Oktober 2021 in der spannenden Reihe „KiWi MUSIKBIBLIOTHEK“, versucht Hübner nun genau diese lebenslange Begeisterung für seine absolute Lieblingsband zu ergründen, und zwar mithilfe des Teufels, zu dem er seit Kindesbeinen einen ausgesprochen guten Draht hat und der praktischerweise regelmässig in Hübners Heimat Südmecklenburg anzutreffen ist, genauer gesagt „am Teufelsstein im Hullerbusch“.

Gemeinsam mit ihm begibt sich der Schauspieler, geboren 1972 in Neustrelitz, zurück in seine Kindheit und Jugend in der tiefen DDR-Provinz, und lebt in einer rasanten Zeitreise persönliche Schlüsselmomente (wie das durch Schlagerallergie vollgekotzte elterliche Auto, die Massenschlägerei wegen zu harter Musikauswahl in der Dorfdisco, die erste selbstgekaufte Platte…) noch einmal durch – und fast immer gibt es einen passenden MOTÖRHEAD-Song dazu. Deren Lyrics sind der Rote Erinnerungsfaden, an denen sich dieser kraftvolle und schnelle Coming of Age-Roman, der gleichzeitig ganz lebensnah, selbstironisch wie schelmisch jüngere ostdeutsche Geschichte und auch einiges an Folklore aus Hübners Heimat nacherzählt, entlanghangelt, ohne dabei jemals nostalgisch zu werden.

Und dem Leser nebenbei einige überraschende Erkenntnisse über Teufel, ihren Musikgeschmack, die Vorzüge des Alleinseins, des Autors liebsten MOTÖRHEAD-Song und „Rock’n’Roll als Fluchtpunkt, als Rebellion und als absolutes Freiheitsideal“ liefert.

Millionenfache Kindheitstraumen, zusammengefasst in einem Bild!

Dabei erweisst sich sehr schnell, dass Hübner nicht nur echter Musikfan, sondern vor allem ein absolut souveräner Mann des Wortes ist, natürlich schon von seiner Profession her, aber eben beim Schreiben auch den nötigen Rhythmus und eine überbordende Phantasie inklusive einer gewissen Crazyness (Sternzeichen Schütze!) mitbringt, um die anekdotengespickte Geschichte dermassen mit Doublebass am Laufen zu halten, dass die Lesezeit wie im Teufelsflug vergeht – indem er mal antreibt, dann wieder Geschwindigkeit rausnimmt, die Spannung steigert und wieder auflöst, eben ganz wie bei einem guten Song.

Zudem hilft natürlich auch die Identifikation mit dem jugendlichen Metalhead, der wie wir selbst seinerzeit ein Outsider war, bei der Stange zu bleiben, wir erleben seine ersten Kontakte zum harten Rock und seinen Fans, diesem ganz besonderen Menschenschlag, mit und erinnern uns dabei gleichzeitig an unsere eigene Initiation in die heiligen Hallen des Heavy Metal und den schon damals unter Eingeweihten zelebrierten Elitarismus…selbst in der Tingeldisco im Kulturhaus „Juri Gagarin“ in Feldberg an der mystischen Seenlandschaft stehen die Metaller mit dieser gewissen Arroganz am Rande der Tanzfläche, bis endlich spät Nachts ihre halbe Stunde kommt.

Die KiWi MUSIKBIBLIOTHEK bietet zum noch tieferen Eintauchen in die Materie Playlists zum jeweiligen Buch, und der Autor empfiehlt ausdrücklich „während der Lektüre des folgendes Textes die zitierten Songs so laut wie möglich zu hören“. Wenn das mal keine Ansage ist. Leider ist es eine Spotify-Liste, geht natürlich gar nicht… aber Fans haben die Klassiker ja sowieso im Regal stehen, zumindest von Motörhead, AC/DC, Maiden oder Sabbath, jedoch wohl eher selten Chris Norman oder Die 3 Besoffskis, oder gar Karel Gott, Rex Gildo oder eben: James Last. Doch Hübners Eltern sind dementsprechend ausgerüstet, und Schlagercassetten laufen grundsätzlich bei jeder sonntäglichen Landpartie im Saporoshez, zu der die gesamte Familie verdonnert wird. Ein Aufbegehren gegen diese Zwangsbeschallung ist also nur eine Frage der Zeit, und wie die Wildheit, Geschwindigkeit und Härte des Metal als persönlicher Schutzwall und Fluchtpunkt dienen, aber auch das Tor zu einem neuen Kosmos von Glückseligkeit aufstossen, daran erinnert Hübner mit diesem sehr persönlichen und vor allem leidenschaftlichen Rückblick in die prägendste Zeit des Lebens.

„…und dass Gustav Mahler Heavy Metal ist, wissen wir doch eh schon gefühlt seit einer Ewigkeit“

A propos: der kleine Band eignet sich mit seinen 176 Seiten perfekt für eine Zugfahrt oder einen faulen Nachmittag am See und sollte unbedingt mit entsprechend ausgewähltem Soundtrack genossen werden (die Spotify-Playlist ist viel zu lang dafür…)! Alternativ gibt es das Ganze auch als Hörbuch, von ihm selbst eingesprochen.
Ausserdem liest Hübner immer wieder mal irgendwo in Deutschland aus seinem Buch, z.B. am 17.06.22 in Leipzig im Schauspielhaus oder am 19.06.22 in Bremen im Schlachthof sowie daheim im Deutschen Schauspielhaus Hamburg am 23.06.22. Dabei begleitet ihn ein Jazz-Gitarrist, und sie geben gemeinsam Unplugged-Versionen aller vorkommenden Songs zum besten, der Mann kann nämlich auch singen.

Zudem ist der Schauspieler aktuell an einer fiktionalen Fernsehserie über die Geschichte Wackens (wo er Lemmy das einzige Mal live erlebte) beteiligt, die gerade von Florida Film produziert wird. Haltet die Augen danach offen!

Charly Hübner über MOTÖRHEAD
oder Warum ich James Last dankbar sein sollte

Buch/eBook
Verlag: KiWi-Taschenbuch   
176 Seiten
ISBN: 978-3-462-00135-8

Hörbuch, vom Autor gelesen:
Verlag: tacheles! / Roof Music
2 Stunden und 35 Minuten
ISBN: ‎ 978-3-864-84715-8

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